Handschlag über Gräber hinweg

Berlin 1945 - 2020 Ist die Vorstellung absurd oder angebracht, dass sich Angela Merkel und Wladimir Putin zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in Wolgograd oder Berlin-Treptow begegnen?
Wäre ein deutsch-russischer Händedruck, der Vergangenes als Überwundenes besiegelt, auch in Berlin denkbar – am Fuße des sowjetischen Ehrenmals in Treptow
Wäre ein deutsch-russischer Händedruck, der Vergangenes als Überwundenes besiegelt, auch in Berlin denkbar – am Fuße des sowjetischen Ehrenmals in Treptow

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Ein Geschichtspfad, der betreten wird, um sich der April- und Mai-Tage des Jahres 1945 in der damaligen Reichshauptstadt zu besinnen und sich dortiger Schauplätze zu vergewissern, muss nicht in Berlin beginnen. Man kann in Frankreich, etwa in Verdun, starten. Am 22. September 1984 kam es dort zwischen Francois Mitterrand und Helmut Kohl zu einem Handschlag über Gräber und die Geschichte hinweg.

Er galt der letzten Ruhestätte für die Toten einer Schlacht, die es 1916 in der Nähe von Verdun gegeben hatte und die mit knapp 320.000 Gefallenen zu den grauenhaftesten wie verlustreichsten des Ersten Weltkriegs zählte. Kohl und Mitterrand Hand in Hand, wo Zehntausende von Gräbern Seit' an Seit' lagen. Was als Geste spontan entstand, wie hinterher versichert wurde, ließ nur eine Deutung zu: Unsere Vergangenheit verlangt nichts mehr als Versöhnung. Und das für alle Zeit.

Warum, ließe sich fragen, finden die Bundesrepublik Deutschland und Russland bis heute nicht zu vergleichbarem, symbolträchtigem Einvernehmen? Wäre es so verwegen oder absurd, sich vorzustellen, Wladimir Putin und Angela Merkel reichen sich die Hände vor dem Mamajew-Hügel in Wolgograd, um zur 75. Wiederkehr des Kriegsendes der Toten von Stalingrad 1942/43 zu gedenken wie einst Kohl und Mitterrand der Toten von Verdun?

Schließlich gibt es ein historisches Beispiel als Vorbild oder Vorlage gewissermaßen, an das man sich halten könnte.

Adenauer in Moskau

Anfang September 1955 flog Kanzler Konrad Adenauer mit einer ansehnlichen Delegation von der Personenzahl her nach Moskau, um die sowjetische Regierung zur baldigen, wenn nicht sofortigen Freilassung der letzten knapp 10.000 deutschen Kriegsgefangenen zu bewegen. Obwohl für die Gastgeber, wie sich später herausstellt, längst beschlossen ist, dass dem entsprochen wird, wenn auch nicht durch einen Vertrag geregelt, sondern ein Ehrenwort des damaligen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin, gehen die Verhandlungen bereits am zweiten Tag in einen heftigen Schlagabtausch über.

Nachdem Adenauer der sowjetischen Seite vorwirft, die Rote Armee habe sich als Besatzungsmacht in Deutschland eines teils unmenschlichen Verhaltens schuldig gemacht, fühlt sich die andere Seite brüskiert. Der westdeutsche Kanzler erntet energischen Widerspruch, er solle nicht versuchen, aus einer Position der moralischen Stärke heraus Forderungen zu stellen. Was im Klartext heißt, Sie wollen die Kriegsgefangenen mit nach Hause nehmen, also behandeln Sie uns entsprechend. Vergessen Sie nicht, welche Verbrechen Deutsche in der Sowjetunion, oftmals ungesühnt, begangen haben.

Das Gesprächsklima wirkt belastet, die Situation scheint verfahren – kann der Abend retten, was der Vormittag verdorben hat? Adenauers Delegation ist ins Bolschoi-Theater geladen und soll Modest Mussorgskis Oper Boris Godunow sehen, doch hat Premier Bulganin eine Programmänderung erwirkt. Es soll Sergei Prokofjews Ballett Romeo und Julia geben. Vermutlich wegen des ergreifenden Finales, wenn sich die Familien des toten Liebespaares – die Montagues und die Capulets – über dem Grab ihrer Kinder versöhnen und die Hand reichen.

Als die Schlussszene getanzt ist und Beifall anhebt, schaut alles auf die „Zarenloge“, in der Adenauer, Bulganin und Parteichef Chruschtschow stehen, sich einander zuwenden und die Hand reichen, eine Umarmung wird angedeutet und mit anschwellendem Applaus bedacht. Alle Welt weiß, weshalb Adenauer in Moskau weilt – spätestens nach diesem Händedruck weiß sie auch, dass seine Mission Erfolg haben wird, auch wenn noch tagelang um das Ergebnis gerungen wird.

Kind auf dem Arm

Wenn das Überwältigende eines Schauplatzes wie Augenblicks so viel bedeutet, wäre ein deutsch-russischer Händedruck, der Vergangenes als Überwundenes besiegelt, auch in Berlin denkbar – am Fuße des sowjetischen Ehrenmals in Treptow, vor der aus dunklem Granit gehauenen Figur des Soldaten mit dem Kind auf dem Arm, einem deutschen Kind.

Manchen Zeitgenossen wird das in der erhabenen Ansicht bestärken, Propaganda und einem idealisierenden stalinistischen Gedenkkult unterworfen zu sein. Doch sollte Vorsicht walten – was womöglich weniger bekannt ist: Das Motiv des Bildhauers Jewgeni Wutschetitsch lässt sich auf ein reales Geschehen aus den letzten Kriegstagen 1945 in Berlin beziehen, als der sowjetische Sergeant Nikolai Massalow unter Lebensgefahr an der Potsdamer Brücke über den Landwehrkanal ein dreijähriges Mädchen aus umkämpftem Terrain rettete. Es lag mitten auf der Straße neben der toten Mutter und schrie. Massalow brachte das Kind auf dem Arm hinter die eigenen Linien in Sicherheit.

Es gab ähnliche Rettungsaktionen in Treptow und Schöneberg. Wutschetitsch betrachtete die Tat von Massalow deshalb nur als eine von mehreren Episoden, die ihn inspiriert hatten, als das Gedenkensemble im Treptow Park zum vierten Jahrestag des Sieges Anfang Mai 1949 eingeweiht wurde. Die Stadt Berlin hat sich hingegen erst 2001 dazu durchgerungen, an Nikolai Massalow mit einer bronzenen Gedenktafel am Geländer der Potsdamer Brücke zu erinnern, die 2003 enthüllt wurde.

Wer den Text der Tafel gelesen hat und aufschaut, erblickt auf der gegenüberliegenden Seite des Landwehrkanals ein stattliches, in einem barock wilhelminischen Stil gehaltenes Gebäude, das 1945 die Adresse Tirpitzufer 80 trug und im Sprachgebrauch der Wehrmacht, auch darüber hinaus, als „Canaris-Villa“ firmierte. Dort saß die Führung der deutschen Abwehr unter Admiral Wilhelm Canaris, quasi das Spionagezentrum des III. Reiches, komplettiert auf diesem Areal durch die Dechiffrier-Abteilung der Wehrmacht am nahen Matthäi-Kirchplatz.

Schlinge für Canaris

Als Nikolai Massalow am 30. April 1945 das Kind rettet, ist die Asche von Wilhelm Canaris schon vom Winde verweht. Dem Chef der Heeresabwehr galt zuletzt ein wachsendes Misstrauen der NS-Führung, nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 traf ihn der tödliche Hass Hitlers, Himmlers und Kaltenbrunners. Auch wenn er nicht direkt beteiligt war, wusste der Admiral offenbar davon, dass sich Generäle und Offiziere nicht mehr an den Eid auf Hitler gebunden fühlten und als Patrioten handeln wollten, um den Untergang Deutschlands aufzuhalten. „Canaris soll dafür bezahlen“, schreit Hitler.

So wird Wilhelm Canaris am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg von johlenden SS-Männern nackt und halbtot in die Schlinge eines Galgen gehängt, danach verbrannt, die Asche verstreut. Canaris wäre gewiss nicht in Ungnade gefallen, hätte er jene unbedingte Gefolgschaft gezeigt, von der das OKW, das Oberkommando der Wehrmacht, am Tirpitzufer 72 bis 76, also in Nachbarschaft zur „Canaris-Villa“, nicht lassen wollte.

Aus diesem Gebäude kamen bis zuletzt die Durchhaltebefehle während der Schlacht um Berlin – aus dieser Befehlszentrale stammten im Frühjahr 1941, vor dem Überfall auf die Sowjetunion, auch die Erlasse, mit denen Rücksichten auf Kriegsgefangene wie die Zivilbevölkerung im Osten ausgeschlossen wurden. Darunter die Order vom 13. Mai 1941, unterzeichnet von OKW-Chef Wilhelm Keitel, in dem es hieß: „Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.“

Aus der Welt schaffen lässt sich nie, was daraus folgte. Doch könnte das deutsch-russische Verhältnis die Erinnerung daran derart prägen, dass Versöhnung so zwingend erscheint wie zwischen Deutschland und Frankreich seit Jahrzehten.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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