Heilige Kühe vor der Notschlachtung

Offenbarungseid Die EU-Gemeinschaft bleibt in der Krise viel Gemeinschaftsgeist schuldig

Jeder stirbt für sich allein, jeder rettet sich allein. Deutschland steht nicht in der Pflicht, der französisch-belgisch-luxemburgischen Dexia-Bank Geld in die er- starrten Adern zu pumpen. Nicolas Sarkozy muss nichts für den Bankrotteur Hypo Real Estate tun. Und der britische Staat darf seine neuen Besitztümer gleichfalls allein genießen, die verstaatlichten Bankhäuser Northern Rock sowie Bradford Bringley macht ihm niemand streitig. Das war die Botschaft vom Pariser Krisengipfel am vergangenen Wochenende.

Merkel, Sarkozy, Brown und Berlusconi wollten es nicht riskieren, in den gedrehten Strick zu greifen, auf dass ihnen die Finanzkrise fortan keinen Strick mehr dreht. Sie konnten nicht anders, als den von der Deutschen Bank und anderen verlangten Europäischen Notfonds für schrottreife Kreditinstitute zu verweigern. Sie wollten für ihre Staaten Schaden begrenzen, weil sie allesamt nicht wissen, wie hoch die Schäden noch sein werden, die eine amoklaufende Finanzbranche weiterhin auftürmt. Sie mussten daher in Kauf nehmen, dass die EU nicht als Staatenbund handelte, sondern bestenfalls als Verbund von Staaten.

Insofern blieb das in Paris versammelte Kerneuropa, das sich gern als Schrittmacher inszeniert, den durchschlagenden europäischen Rettungsakt schuldig. Auch wenn sich die EU-Finanzminister inzwischen für das Überleben "aller wichtigen Banken" verbürgen, mehr als eine Absichtserklärung ist das nicht. Nationale Rettungsmaßnahmen ersetzen den supranationalen Masterplan. Da keiner wissen kann, welche Bank in welchem Land wann welchen Offenbarungseid leistet - und was es kostet, diesen Eid nicht ungehört verhallen zu lassen, gibt es zur Entscheidung von Paris offenkundig keine Alternative. Jahrelang galt in der Brüsseler EU-Zentrale die Überzeugung, gegen die Finanzmärkte lasse sich keine Politik machen. Nun, da allenthalben danach gerufen wird, bleibt das gemeinschaftliche Krisenmanagement Stückwerk und von nationalen Interessen überlagert. Was sagt das über eine Europäische Union, die sich ermächtigt fühlt, notfalls mit militärischer Macht ihr System zu exportieren, wenn sie von diesem System mehr beherrscht wird, als es selbst zu beherrschen?

Soviel steht jetzt schon fest, die Kollateralschäden diese Finanzkrise werden beachtlich sein. Es ist absehbar, dass Heilige Kühe der EU reihenweise der Notschlachtung anheimfallen. Ausgesorgt haben dürften die Maastricht-Kriterien mit ihrem jährlichen Neuverschuldungslimit von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für EU-Staaten, die zur Euro-Zone gehören. Frankreich hat diese Grenze bereits ungerührt überschritten und wird es weiter tun, weil neben Sarkozys Wirtschaftspolitik nun auch der Bankensektor seinen Tribut fordert. Den deutschen Staatshaushalt werden die Milliardenhilfen erst für die IKB, jetzt für Hypo Real Estate - und wer weiß wen noch - ebenfalls nicht ungeschoren lassen. Silvio Berlusconi weiß das Beispiel Sarkozys zu schätzen. Und Premierminister Brown kann sowieso tun, was er will. Großbritannien ist kein Euro-Land.

Angeschlagen bleibt der Verfassungsersatz "Lissabonner Vertrag" mit seinen Liberalisierungsdogmen, die sich gerade in der Finanzbranche so glänzend bewährt haben. Warum sollten Iren oder Tschechen, in deren Ländern eine Ratifizierung aussteht, einem solchen Vertragswerk zustimmen?

Gezügelt wird eine galoppierende Osterweiterung, die EU dürfte nach dieser Finanzkrise viel Erholung brauchen und den Beitrittswillen Kroatiens, Serbiens, Albaniens, Montenegros, Mazedoniens, der Ukraine oder der Türkei in der Warteschleife parken. Über alldem schwebt die Frage, ist das Europa der 27 doch nur 27 mal Europa? Eine Schönwetter-Veranstaltung, bei der jeder selbst tut, was er für geboten hält, wenn es darauf ankommt?

Es ließe sich einwenden, immerhin gibt es mit der Europäischen Zentralbank (EZB) eine Instanz, die inzwischen mit kurzfristigen Liquiditätshilfen für angeschlagene Banken im gesamten Euro-Raum nicht nur massiv interveniert, sondern als eine Art "Lender of last resort" - Kreditgeber der letzten Instanz - das Schlimmste verhindert. Die EZB leistet viel im Zusammenspiel mit den Zentralbanken, die sich gleicher Feuerwehrdienste befleißigen. Dennoch wäre es eine Illusion zu glauben, mit den Finanztransfers der EZB für schlingernde Geschäftsbanken ließe sich das Finanzsystem dauerhaft beruhigen. Das extrem befristet und mit hohen Zinsen verliehene Geld sorgt nur für ein kurzes Durchatmen, weil dank der Krise ein gegenläufiger Trend ins Gewicht fällt. Als letzter Stabili­täts­anker bietet die EZB vielen Banken derzeit einen zwar nicht sonderlich rendite­trächtigen (bei einem Zinssatz von etwas über drei Prozent), aber dafür sicheren Tresor, um Geld einzulagern, das wegen der unsicheren Lage nicht in den Kapitalstrom zwischen den Banken geraten, sondern als Notgroschen bei der Europäischen Zentralbank geparkt werden soll. Das heißt, so wie dieses Institut für Liquidität sorgt, ist es auch für deren Entsorgung zuständig, indem es Gelder aus dem Kapitalmarkt zieht.

Wer also glaubt, mit der EZB nach dem Sanierer zu rufen, muss mit einem Sanitäter vorlieb nehmen, der kühle Kompressen gegen den Infarkt zu bieten hat. Die EU hält es kaum anders.

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