Der Vorhang ging hoch – und da hockte sie wieder in ihrem goldfarbenen und straff sitzenden Blazer. Als sei sie nach dem Silvesterabend von 2012 gleich sitzen geblieben. Das wäre denkbar, denn regiert wurde nicht eben viel im zurückliegenden Jahr. Zwischen September und Dezember fiel es gleich ganz aus. Also, alles wie gehabt? Nicht ganz, denn Angela Merkel ist heute noch beliebter als gestern. Besonders unter jungen Deutschen gehen die Zustimmungswerte nach oben wie sonst um diese Jahreszeit nur Knochenbrüche bei Glatteis.
Angela Merkel hat viel dafür getan, dass sie über diese heilige und heilsame Kraft verfügt. Pflegt sie doch ein Amtsverständnis, bei dem weniger die Kanzlerin als die oberste Seelsorgerin der Nation gefragt ist. Man könnte einwenden, pastorale Botschaften gehören auf eine Kirchenkanzel statt ins Kanzleramt. Selten (oder noch nie?) zu Lebzeiten der Berliner Republik gab es als Jahresausklang eine Neujahrsansprache, in der heikle Themen so beharrlich ausgeklammert blieben, und die so leer wirkte wie 2013. Was allein dominierte, war das Allgemeinmenschliche und Unverfängliche, Streichel-Einheiten als Kopfwäsche. Es gebe „viel zu tun, damit Deutschland auch in Zukunft stark“ bleibe“. Durch „gute Arbeit und ein gutes Miteinander“ werde man das schon erreichen. Da wurde heiße Luft als langer Atem verkauft.
In den besten Händen
Die sich in Deutschland ausbreitende Gepflogenheit, gesellschaftliches Sein als Biedermeier-Idyll mit DSL-Anschluss misszuverstehen und politische Unbedarftheit wie eine Monstranz vor sich her zu tragen – wir wissen nichts, und wir wollen nichts wissen und schon gar nicht das – darf sich bei Angela Merkel in den besten Hätschel-Händen fühlen. Wird das Charisma der Republik dadurch verstümmelt? Eher nicht, und wenn, dann bis zur Kenntlichkeit. Merkel lässt uns wissen, dass sie im Neuen Jahr mehr an die frische Luft gehen will. Gewiss ein löblicher Vorsatz - nach dieser Neujahrsrede ist ihr von Herzen zu gönnen, dass sie ihn einhält und uns weitere Auftritte dieses Zuschnitts erspart.
Das Flanier- und Erholungsbedürfnis der Kanzlerin in allen Ehren – vielleicht hätte mehr interessiert, wie es weiter gehen soll mit Energiewende und Klimapolitik oder dem vereinten Europa der monetären Schocktherapien und grassierenden Jugendarbeitslosigkeit in einem halben Dutzend Euro-Staaten. EU und Währungsgemeinschaft scheinen gehörig in Verruf geraten. Sie stoßen auf Skepsis und Ablehnung, teilweise Abwehr und Feindschaft. Bei den Europawahlen Ende Mai könnte daher ein Erweckungs-Erlebnis fällig sein, sollten die in einer „Allianz der Freiheit“ vereinten rechtsnationalistischen Parteien einen Stimmenanteil verbuchen, der einem plebiszitären Veto gegen „das Monster in Brüssel“ gleichkommt, wie Marine Le Pen, die Vorsitzende des französischen Front National (FN), die EU-Kommission gelegentlich nennt.
Hang zur Banalität
Merkel stellt dieses Votum in nahe liegende Kontexte – 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und 25 Jahre, nachdem in Berlin die Mauer durchlässig wurde und schließlich fiel. Gerade die beiden Urkatastrophen des 20. Jahrhunderts sollten doch Anlass sein, wenigstens zwei bis drei Sätze über aktuelle Gefahren für das europäische Projekt zu riskieren (und den eigenen Anteil daran nicht zu vergessen, aber das wäre sicher zu viel verlangt).
Dem Land zuliebe sollen wir weiter auf „Zusammenhalt“ und „Gemeinsinn“ bedacht sein. Wie stark der verwurzelt ist und für ein „gutes Miteinander“ spricht, offenbaren gerade Unternehmerverbände, ihnen verbundene Medien und die CSU, wenn sie sich förmlich das Herz aus dem Leibe reißen, damit der Mindestlohn möglichst bald und möglichst flächendeckend kommt.
Wähler von CDU und CSU, so ergab eine von der Zeit im Vorjahr veröffentliche Studie, interessieren sich am wenigsten für Politik und sind deshalb die glücklichsten Deutschen. Da hat Angela Merkel eine sehr klientelbezogene Neujahrsrede gehalten. Un- oder apolitisch zu sein, das scheint mehr und mehr zum „Markenkern“ gesellschaftlichen Wohlbefindens zu werden.
Dieses erinnert an die Stagnation während der Restlaufzeit für die Ära Kohl zwischen 1994 und 1998. Oder wird hier etwas überinterpretiert? Ist Angela Merkel nun einmal so, wie sie ist? Stilbewusst, ohne Scheu vor dem Hang zu populärer Banalität? Oder berechnet sie, was sie tut? Man kann sich mit der Erfahrung behelfen, dass Worte der Macht deren Taten höchst selten ausdrücken, sondern maskieren. Aber reicht das zur Erklärung?
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.