Henker und Heuchler

Last der Erinnerung Das seit einer Woche tagende Kambodscha-Tribunal kommt zu spät, sagen viele und vergessen dabei: Einen ersten Prozess gegen die Führer der Khmer Rouge gab es schon 1979

Die Zeugin Banh Tikrit schreit und wirft sich auf die Knie, als wollte sie flehentlich darum bitten, aus dem offenen Halbrund des Zeugenstandes befreit zu werden, der sie wie ein Käfig umschließt. Männer aus dem Saal eilen ihr zu Hilfe. Der Ankläger gibt auf, keine Fragen mehr, die Zeugin wird entlassen. Sie soll nicht länger der Hölle ihrer Erinnerung ausgesetzt sein.

All das geschieht am 17. August 1979, dem dritten Tag eines Tribunals in Phnom Penh zur Verurteilung des in Kambodscha zwischen 1975 und 1979 verübten Völkermords. Im Großen Saal des Chaktomuk-Theaters ist der Anklagepunkt aufgerufen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen im Straflager Tuol Sleng. Gemeint ist ein Gelände im Süden der kambodschanischen Hauptstadt, das in den fünfziger Jahren noch „Lycėe Ponhea Yat“ heißt. Ende 1975 – Phnom Penh ist bereits entvölkert und Kambodscha eine große Volkskommune – hat sich der Name geändert und klingt nun wie ein Code: „S 21“, die Kurzfassung für „Securité 21“. Aus der Erziehungsanstalt ist ein Umerziehungslager geworden, in dem bis zum Januar 1979 etwa 20.000 Menschen – Männer, Frauen und Kinder, bevorzugt aber unzuverlässige eigene Kader der Khmer Rouge – unter Folter verhört, zu Geständnissen gezwungen und größtenteils hingerichtet werden.

Im Chaktomuk-Theaters kursiert eine Liste mit prominenten Toten aus „S 21“, die in Ungnade fielen, weil sie die Abschaffung des Geldes oder die fanatische Feindschaft gegenüber Vietnam bezweifelt hatten, darunter: Hou Nim, bis 1976 Informationsminister unter Pol Pot, Toch Phoeun, bis 1977 Minister für Öffentliche Arbeiten, oder Hou Yuon, der ehemalige Finanzminister.

Intensiv behandelt

Bang ti moy, der Bruder Nr. 1, wie sich Pol Pot nannte, hatte angeregt, im neuen Kampuchea „Intellektuelle mit der Hacke zu jäten“. So holen die Wachsoldaten von Tuol Sleng, manche fast noch Kinder, die Gefangenen nachts aus den Zellen. Wen es trifft, für den hat das Grauen oft schon zu lange gedauert. Um so leichter fällt der Aufbruch jetzt. Nur ein paar Schritte noch, kein Geschrei der Wächter mehr. Es ist Nacht, und es bleibt Nacht. Nichts nimmt den Atem, nicht einmal die letzte Angst. Ein kräftiger Jungenarm führt den Schlag mit der Hacke, der Körper explodiert. Steine zerfallen, Zikaden klagen, die Fledermäuse schweigen. In der Anklageschrift des Tribunals gibt es im Abschnitt Le Camp d‘Extermination de Tuol Sleng einen Absatz zur Bestattung der Hingerichteten, darin heißt es: „Fast jeden Tag wurden vom Wachpersonal Erdgruben angelegt, die 4,50 Meter lang, zwei Meter breit und 1,50 Meter tief sein mussten. Sie sollten die Körper der Gefangenen aufnehmen, deren Exekution bevorstand. In der Regel fanden Hinrichtungen kurz nach Mitternacht statt.“

Unter Pol Pot ist es verboten, Leichen einzuäschern. „Holz ist dazu da, ein Feuer zu machen und zu kochen. Holz soll nicht verschwendet werden“, wird dem Wachpersonal eingeschärft, wenn es im schwarzen Pyjama der Khmer Rouge zum „S-21“-Morgenappell antritt. Ob bei solchen Anlässen die letzte Nacht besprochen wird, ist nicht überliefert. Ganz anders verhält es sich mit den bürokratischen Hinterlassenschaften der Täter – Tausenden von Häftlingsfotos, Fragebögen, Gefängnisakten, Verhörprotokollen. Einer der Ankläger im Chaktomuk-Theater meint, um den Angeklagten ihre schwere Schuld nachzuweisen, dürfe man auf keines dieser Dokumente verzichten, er wolle sich jedoch darauf beschränken, lediglich aus zwei Häftlingsbögen zu zitieren: „Pirng Khom, 27 Jahre alt, Chef der Milizen der 4. Region, Brigadechef der Kommune Nr. 4. Festgenommen in der Nordwestregion. Verstorben an zu hohem Blutdruck. Er wurde zehn Tage intensiv behandelt. 10. 10. 1977. – Sim Chnang, Textilarbeiter aus Siam Reap. An Auszehrung gestorben. Er wurde eine Stunde intensiv behandelt. 8. 4. 1977.“

Mit der Formulierung „intensiv behandelt“ wird auf die Verhöre angespielt, bei denen sich die Vernehmer von „S 21“ überzeugen wollen, ob ein Gefangener noch immer die „Schlacken des Alten“ in sich trägt. Bevor eine Befragung beginnt, ist es üblich, die Regeln eines „S 21“-Verhörs vorzulesen – sie lauten: „Auf alle Fragen musst du antworten. Du musst sofort antworten, nicht einen Moment darfst du zögern. Du darfst dich nicht bewegen, wenn es nicht befohlen ist. Es ist verboten, am Sinn der Revolution zu zweifeln.“

Die Ankläger im Chaktomuk-Theater rufen Ing Pech in den Zeugenstand, der „S 21“ überlebt hat, weil er als Ingenieur soviel „Schlacke des Alten“ in sich trug, die Stromgeneratoren des Lagers reparieren zu können. Auch er wurde gefoltert. „Als ich verhört wurde, klemmten sie mir die Finger ein und begannen, die Nägel herauszureißen“, sagt er aus. „Dann wurden die Wunden mit Äthanol übergossen, ich hatte wahnsinnige Schmerzen.“

Beliebt bei den Wächtern von Tuol Sleng ist die Folter im Wasserbad, wenn der Gefangene – die Füße an eine Einstange gebunden und die Hände auf den Rücken gefesselt – bäuchlings in ein Bassin gelegt wird. Die Vernehmer rufen: „Du hast zu antworten, wenn nicht, ersäufen wir dich“, sie setzen einen Fuß auf ihr Opfer und drücken den Körper unter Wasser. „Mein Bauch quoll auf zum Ballon. Sie zogen mich aus und traten mir gegen den Unterleib, bis ich bewusstlos wurde“, erinnert sich der einstige Gefangene Thong Chann vor dem Tribunal an das „Waterboarding“ von Tuol Sleng.

Nur die Überlebenden

Am 18. August 1979 hält der Ankläger des Tribunals sein Plädoyer und verweist immer wieder auf die Verhältnisse im Lager
„S 21“, um den Vorwurf des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu erhärten. Er beruft sich auf das Nürnberger Statut von 1945 sowie die Genfer Konventionen von 1949, die Kambodscha nach seiner Unabhängigkeit (1955) ratifiziert und zum innerstaatlichen Recht erklärt habe. Einen Tag später verurteilt der Gerichtshof die beiden Angeklagten, gegen die in Abwesenheit verhandelt wird, zum Tode. Sie heißen Pol Pot und Ieng Sary, der Diktator und sein Außenminister, die zu diesem Zeitpunkt irgendwo im Grenzgebiet zwischen Kambodscha und Thailand untergetaucht sind. Das Gericht im Chaktomuk-Theater hat genau eine Woche getagt. Es war ein erster Versuch, Verbrechen zu ahnden, die zu den schrecklichsten der Menschheitsgeschichte gehören.

Im Westen ist umgehend von einem „Schauprozess“ die Rede, von „einer monströsen Propagandashow der vietnamesischen Kommunisten und der neuen Führung in Phnom Penh“ – als hätte es Zeugen wie Banh Tikrit, Ing Pech oder Thong Chann nie gegeben. Die kambodschanische Regierung erklärt, weitere Prozesse seien nur sinnvoll, wenn dabei auch aufgearbeitet werde, wie die USA, China und andere in die Pol-Pot-Herrschaft verstrickt waren. Da schäumt die Entrüstung erst richtig auf. Was nicht überrascht, schließlich haben gerade die Amerikaner das Terrorsystem der Khmer Rouge nicht nur geduldet, sondern nach 1979 deren Untergrundkampf gegen Vietnam direkt unterstützt. Es schert sie wenig, dass dadurch ein Völkermord ungesühnt bleibt. Also, wer eigentlich hat Grund, darüber zu klagen, dass erst im Februar 2009, 30 Jahre nach dem Sturz Pol Pots, ein Tribunal die letzten seiner noch lebenden Paladine zur Verantwortung zieht? Doch nur die Überlebenden des Grauens.

Das jetzige Tribunal tagt weit außerhalb von Phnom Penh, anders als das Gericht vom Sommer 1979, das direkt in der Hautpstadt stattfand. Die entscheidenden Prozesse wird es ab Mai oder Juni gegen den ehemaligen Staatschef des Pol-Pot-Staates "Demokratisches Kampuchea", Khieu Samphan, Ex-Außenminister und Ex-Vizepremier, Ieng Sary, sowie den einstigen Chefideologen und "Bruder Nr. 2", Nuon Chea, geben.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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