Da wird von Gregor Gysi nichts weniger verlangt, als den außenpolitischen Gründungskonsens der Linkspartei von 2007 in Frage zu stellen, wenn nicht aufzukündigen. Er bestand darin, sich außenpolitisch keiner Sanktions- und Interventionspolitik zu unterwerfen, die missliebige Staaten und Systeme zur Räson bringt.
Man hielt die NATO für einen Anachronismus, der durch andere Sicherheitsstrukturen ersetzt werden sollte, und lehnte die europäische Integration nicht a priori ab, versagte sich aber einer EU, die als neoliberales Projekt einen Offenbarungseid nach dem anderen leistete. Während der Eurokrise war das unbestritten deren Kernkompetenz.
Abschied von Lafontaine
Diese Programmatik ging maßgeblich auf Oskar Lafontaine als einem der Parteigründer zurück. Er konnte Westlinke sozialdemokratischer wie gewerkschaftlicher Provenienz überzeugen, es mit den demokratischen Sozialisten im Osten innerhalb einer Partei zu versuchen. Und er hatte 1998/99 vorgelebt, was es bedeutete, Haltung und Zivilcourage zu zeigen, als er dem unternehmerfreundlichen Kurs des Kanzlers Schröder ebenso wenig folgte wie dessen Parteinahme für eine NATO-Intervention gegen Jugoslawien. Statt sich vom Regierungskanon disziplinieren zu lassen, trat er als Finanzminister zurück und kehrte bald auch der SPD den Rücken.
Will Gysi nun die große außenpolitische Inventur, läuft das auf einen – aus seiner Sicht womöglich längst fälligen – Götzensturz hinaus. Freilich würden damit zugleich Wurzeln einer eher kurzen Parteigeschichte wie der bisher reklamierten politischen Identität gekappt. Nicht zuletzt lange zurückliegende (1914-1918) wie jüngste Geschichte der SPD (1999) zeugt davon, was es bedeuten kann, sich in der Frage von Krieg und Frieden – und darum geht es, wenn man sich mit der NATO arrangieren will – untreu zu werden.
Für die Linkspartei geschähe das im Übrigen ohne Not. Warum jetzt dazu anregen, dass eines ihrer letzten Alleinstellungsmerkmale geopfert wird? Die Aussichten ab 2021 von Grünen und Sozialdemokraten an einer Regierung beteiligt zu werden, sind äußerst vage. Sollte es tatsächlich dazu kommen, würde ein Wahlergebnis zwischen sieben und acht Prozent in einem grün-rot-roten Kabinett alles andere als Diskurshegemonie bescheren. Ein Minderheitsdasein mit zwei oder drei Ressorts wäre das höchste der Gefühle.
Auf der schiefen Bahn
Was Gysi vorschwebt, haben die Grünen 1995 vollzogen, als sie auf dringende Empfehlung ihres späteren Außenministers Joschka Fischer ein Eingreifen von NATO-Kampfjets in den Kampf um die bosnische Hauptstadt Sarajevo und damit in den jugoslawischen Bürgerkrieg billigten. Von dieser Abkehr vom einst pazifistischen Gründungskonsens war es nicht mehr weit, um in der 1998 gebildeten rot-grünen Bundesregierung dem weder vom Völkerrecht legitimierten noch durch den UN-Sicherheitsrat abgesegneten NATO-Angriff auf die damalige Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro) zu befürworten.
Was man da zu verantworten hatte und verantworten wollte, wurde mit bemerkenswertem propagandistischen Aufwand und gesinnungsethischem Furor verteidigt. Das Ergebnis waren unter anderem mehr als tausend getötete Zivilisten. Der erste Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach 1945 führte zur Revision europäischer Nachkriegsgrenzen, indem die Provinz Kosovo unter westlicher, besonders deutscher Schirmherrschaft von Serbien abgespalten wurde.
Dass die Grünen ihren einstigen Pazifismus für überholt hielten und teilweise verächtlich machten, hatte sich also wirklich gelohnt. Es trug dazu bei, das Antlitz Europas zu verändern, Präzedenzfälle zu schaffen und zu beweisen, wie machtkompatibel und regierungsfähig diese Partei sein konnte, wenn es ernst und kriegerisch wurde.
Man darf gespannt sein, wie es die Linkspartei übersteht, sollte sie ähnliche Qualitäten nachweisen. An Konflikten in Europa und außerhalb Europas fehlt es bekanntlich nicht, um sich Handlungszwängen ausgesetzt zu sehen, die denen der späten 1990er Jahre in nichts nachstehen.
Luxemburgs Vermächtnis
Wer jedes Jahr im Januar zur Gedenkstätte in Berlin-Friedrichsfelde marschiert, um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ehren, dürfte wissen, wie sehr sie auf ihre Prinzipien und Überzeugungen achteten. 1918/19 während der Novemberrevolution allemal. Beide verweigerten sich einer Sozialdemokratie, die mit den alten Eliten fraternisierte, um jeden Umsturz zu verhindern, aus dem mehr zu werden drohte, als die systemerhaltende, deutsche Republik. Luxemburg und Liebknecht hätten vermutlich überlebt und womöglich sogar mitregieren können, wären sie Ebert und Scheidemann gefällig gewesen. Sie taten es um ihrer selbst willen nicht. Bisher schien dem Führungspersonal der Linkspartei dieses Vermächtnis ein hohes Gut zu sein.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.