Ihr Kinderlein kommet

Die Türkei-Frage Die EU flieht nach vorn, während in den Mitgliedsstaaten das Feindbild Muslime auf Hochglanz poliert wird

Die EU will in der heiklen Türkei-Frage gewiss alles andere als eine Jahrmarktsattraktion sein, erinnert aber an eine Dame ohne Unterleib. Sie wird in zwei Teile zersägt und nimmt nach außen hin keinen Schaden, weil für Kopf und Bauch tatsächlich gilt, was der Anschein suggeriert - sie hängen nicht zusammen. Wenn der Europäische Rat in Brüssel Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einläutet, wird damit ein Gemeinschaftswillen artikuliert, der mit dem Einzelwillen in vielen Mitgliedsstaaten, die jenen zu tragen haben, nicht eben viel zu tun hat. Der Kopf entscheidet über den Bauch, wie es nur zu oft üblich ist in der Union, allen Demokratieschwüren zum Trotz. Eine Flucht nach vorn, die nicht sehen will, was sich hinten zusammenbraut.

In Deutschland wird passend zur Weihnachtszeit aus Christen- und Chauvinistenpflicht das Feindbild Muslime auf Hochglanz poliert, und die Standesgermanen vom Regierungsbewerber CDU/CSU wollen dem EU-Bewerber Türkei bestenfalls eine privilegierte Partnerschaft zugestehen. In Frankreich verweigert die Regierungspartei UMP Ankara kurzerhand das EU-Ticket, während die Sozialisten als größte Oppositionskraft darüber zerstritten sind. Vieles spricht dafür, dass die Franzosen das Problem 2005 beim anstehenden Referendum über ein Nein zur EU-Verfassung regeln könnten. Und die Neumitglieder in Osteuropa? Sind sie in 15 Jahren soweit, EU-Fördergelder großen Herzens an den Bosporus durchzuwinken?

Wenn die Türkei-Frage in der Union vorerst keine Zerreißprobe heraufbeschwört, dann ist das dem großzügigen Zeitrahmen für die Evaluierung des Kandidaten geschuldet. In 10 bis 15 Jahren kann viel passieren. An den Grenzen der Türkei zum Beispiel, die demnächst als designierte Außengrenzen der EU gelten werden. Nehmen wir nur den Türkei-Anrainer Iran - entweder hat sich das Land 2015 bis zum Status einer Atommacht des Kalibers Pakistan, Indien und Israel vorgearbeitet oder ist daran gehindert worden. Trifft dies zu, wie wurde der Widerspenstigen Zähmung erreicht? Durch Verhandlungen mit der Internationalen Atomenergiebehörde, bei denen als unsichtbarer Dritter Israel zu verstehen gab, sein Nuklearpotenzial abschmelzen zu wollen, damit Teheran seinen Nuklearambitionen abschwört? Oder durch einen Präventivschlag der Israelis gegen den Iran nach dem Modell des Angriffs auf irakische Atomanlagen am 7. Juni 1981?

Was täte in einem solchen Falle die EU, die mit ihrem Europa-Aspiranten Türkei einen Frontstaat zum Atom-Aspiranten Iran vorweisen könnte? Hätte sie ihre Hausaufgaben erledigt und eine eigenständige, von den USA emanzipierte Nahostpolitik im Ärmel? Kaum anzunehmen - denn was dem Europa der sechs in seligen EWG-Zeiten nicht möglich war, dürfte dem Europa der 25 erst recht nicht gelingen. Folglich ist der Union mit dem potenziellen Mitglied Türkei zwar ein Nahost-Staat, aber keine Nahost-Politik beschieden. Ein Defizit, das Ankara zu einem Balanceakt zwischen legitimen regionalen Interessen und diffusen europäischen Verpflichtungen zwingt. Was heißt das für den Fall, dass der Irak so zerrissen bleibt, wie er derzeit ist, und sich beispielsweise der kurdische Norden in die Eigenstaatlichkeit absetzt? Eine türkische Regierung könnte dann versucht sein, die eigenen Kurden noch mehr unter Kuratel zu stellen, als das ohnehin geschieht. Und sich dabei des Beistands der EU zum Schutz ihrer territorialen Integrität erfreuen? Oder wird die Türkei sich deshalb wegen weiterer Kriegsverbrechen vor dem Europäischen Gerichtshof verantworten müssen?

Die Frage ist nicht, ob die Europäische Union einen Staat wie die Türkei aufnehmen will, sondern ob sie eine Mitgliedschaft Ankaras verkraften und als Staatenbund geschäftsfähig bleiben kann. Beim jetzigen Zustand der Union und der Region, in der sie Fuß fassen will, muss das mit einem klaren Nein beantwortet werden, was keinem prinzipiellen Nein gleichkommt. Mit anderen Worten: Es geht nicht zuallererst um die EU-Tauglichkeit der Türkei, sondern die Türkei-Tauglichkeit der EU. Wer 2007 Rumänien und Bulgarien einreihen will, wird sich Mazedonien, Kroatien, Serbien/Montenegro und dem muslimischen Bosnien nicht verschließen können. Schon deshalb nicht, weil alle sagen werden: Warum ausgerechnet die Türken und wir nicht? Welche Hochzeiten stehen da Kulturkämpfern bevor, die für den Bauch trefflich Politik zu machen verstehen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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