Ikarus im Sinkflug

USA/Israel Der Gipfel in Washington erbringt ein verblüffendes Resultat: Obama segnet ab, dass Israels Premier Netanyahu verhandeln und zugleich weiter siedeln will

Autismus wird zur Königsdisziplin in den amerikanisch-israelischen Beziehungen. Anders lässt sich nicht erklären, dass Verhandlungsabsichten gegenüber den Palästinensern, wie sie Premier Netanyahu gerade in Washington angedeutet hat, als glaubwürdig anerkannt und von Präsident Obama umgehend begrüßt werden. Was ist solcherart Offerte wert, wenn am gleichen Tag Mitglieder (die Likud-Politikerin und Kulturministerin Limor Livnat) der israelischen Regierung erklären, es wird ab Ende September keine Verlängerung des Baustopps für Siedlungen in der Westbank und im Raum Ostjerusalem geben? Das Moratorium für zehn Monate sei dann definitiv erledigt.

Im November 2009 halbherzig erlassen, hat es seinen Namen nie wirklich verdient, weil etwa 3.000 bereits genehmigte Siedlungsbauten ausgeklammert blieben. Die haben inzwischen weiter Gestalt angenommen, so dass etwas 40 Prozent des Westjordanlandes auf die eine oder andere Weise Teil von Siedlungsprojekten sind. Wie kann man sich mit Plänen zu einer palästinensischen Staatsgründung gegen die von den Israelis geschaffene Realität stemmen?

Wieder bei Bush?

Nur eine Autonomie-Administration in Ramallah, der nichts wichtiger ist, als ihr Gesicht zu verlieren, kann unter diesen Umständen mit Emissären Benjamin Netanyahus verhandeln. Welchen Sinn sollte es haben, jetzt in Diplomatie zu machen und im September empört vom Verhandlungstisch aufzuspringen, wenn der Siedlungsbau in vollem Umfang fortgesetzt wird? Dass Barack Obama Netanyahu und seiner Diplomatie der zwei Gesichter und offenen Finten trotzdem bescheinigt, sie sei ein „Schritt nach vorn“, verblüfft und befremdet.

Ist er mit seiner Nahostpolitik wieder zu George Bush und ins Jahr 2008 zurückgekehrt? Eigentlich schwer vorstellbar, denn der Vorgänger folgte einem durchaus berechenbaren Kurs der drei Axiome: imperiale Expansion nicht vernachlässigen, Führungsmacht im Nahen Osten bleiben, Energiesicherheit für die USA garantieren. Barack Obama hat dem Führungsanspruch nicht abschwören können, ihn aber mit einer intelligenten, auf Ausgleich zwischen allen regionalen Akteuren bedachten Aura versehen wollen. Man denke an seine Kairoer Rede vom 4. Juni 2009, deren Leitmotiv die ausgestreckte Hand gegenüber der muslimischen Welt und das Verständnis für die legitimen Interessen der Palästinenser schien. Doch moralische Autorität braucht ordnende Kraft, Gewissen den Mut zur politischen Tat – die Vision den Sturz des Ikarus. Es ist nun einmal der "Tag des Bodens", den die Palästinenser jedes Jahr am 30. März als einen ihrer höchsten Feiertage begehen, um daran zu erinnern, was ihnen abhanden kam, als sie ihre Staatshoffnung vor mehr als einem halben Jahrhundert begraben mussten.

Immer ambivalenter

Mit anderen Worten, wenn Barack Obama die politischen Konsequenzen scheut, die aus seinem missionarischen Morse-Alphabet und den rhetorischen Versatzstücken „Versöhnung, Verständnis, Vertrauen“ folgen, hat sich auch der viel beschworene Neubeginn im Nahen Osten erledigt. Oder er verzögert sich weiter. Bis nach den US-Kongresswahlen im November mindestens. Die jüdischen Wähler der Demokraten nicht verprellen, deshalb Benjamin Netanyahu hofieren, heißt die Devise. Darunter leidet nicht nur das gegebene Versprechen vom großen Wandel, sondern auch die Rolle der USA als nahöstliche Ordnungsmacht. Wie man dazu auch immer stehen mag – deren Einsatz muss kalkulierbar bleiben und sollte nicht ambivalenter sein, als er schon ist.

Was gilt? Der 4. Juni 2009 in Kairo oder der 6. Juli 2010 in Washington? Das Recht der Palästinenser auf einen Staat? Oder israelische Landnahme durch weiteren Siedlungsbau? Beides geht kaum.

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