Im freien Fall

Krise In Indiens Corona-Inferno offenbart sich ein apokalyptisches Paradigma
Ausgabe 17/2021
Die hindunationalistische Regierung hat die Ausbreitung der Krankheit anfangs ignoriert. Der Ertrag dieses fahrlässigen Umgangs mit tödlicher Gefahr besteht nun in mehr als 330.000 Neuinfektionen und 2.700 Toten pro Tag
Die hindunationalistische Regierung hat die Ausbreitung der Krankheit anfangs ignoriert. Der Ertrag dieses fahrlässigen Umgangs mit tödlicher Gefahr besteht nun in mehr als 330.000 Neuinfektionen und 2.700 Toten pro Tag

Foto: Arun Sankar/AFP/Getty Images

Als am 11. September 2001 die Türme des New Yorker World Trade Centers von zwei Flugzeugen getroffen in sich zusammenstürzten, wurde viel über die Verwundbarkeit hochkomplexer Gesellschaften meditiert. Sie seien mittlerweile so fragil und störanfällig, dass ihnen der Kriegs- oder Katastrophenfall mehr zusetze als je zuvor, hieß es. Wer präventiv handle, sei der Gefahr besser gewachsen, aber ohne Gewähr, im „Ernstfall“ wirklich oder weitgehend verschont zu bleiben. Den Worst Case einer Naturkatastrophe – und was sonst ist die seit 15 Monaten grassierende Pandemie? – in seiner Wirkung einzudämmen, galt als existenzielles Gebot staatlichen Handelns.

Die hindunationalistische Regierung des indischen Premiers Modi hat diese Maxime ignoriert und so das Existenzrecht der ihr anvertrauten Bevölkerung missachtet. Allen alarmierenden Anzeichen einer galoppierenden Verbreitung des Virus zum Trotz wurden zu Jahresanfang Covid-19-Isolationszentren reduziert, Social-Distancing- und Lockdown-Regeln entschärft. Religiöses Störfeuer gegen die nationale Impfkampagne war zulässig, Bigotterie wurde zum Nährboden eines Infernos. Der Hinduismus und das Gebet im Tempel seien der beste Schutz, sich des Virus zu erwehren, ließ die Regierung wissen. Narendra Modi selbst verkündete am 20. März, man müsse nur zu Hause bleiben, um einem erneuten Lockdown zu entgehen. Bei der Bevölkerungsdichte in Megastädten wie Mumbai, Delhi, Hyderabad oder Kalkutta? Bei einem Leben auf Tuchfühlung in den Slums? Es gab den verhängnisvollen Kniefall vor traditionellen Zeremonien mit Massencharakter wie dem rituellen Baden im Ganges. Auch gegen Wahlmeetings mit Tausenden von Zuhörern ohne Abstand und Maske, veranstaltet von der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) und anderen Gruppierungen, hatte niemand etwas einzuwenden. Der Ertrag dieses fahrlässigen Umgangs mit tödlicher Gefahr besteht nun in mehr als 330.000 Neuinfektionen und 2.700 Toten pro Tag.

Covid-Patienten werden von Krankenhäusern nicht mehr aufgenommen, stattdessen sich selbst überlassen, weil es an Betten, vor allem an Sauerstoff fehlt. Mikrobiologen, Virologen, Militärärzte und Medizinstudenten wurden in Kliniken versetzt, um die sich auflösenden Personalbestände zu ersetzen.

Indien lässt erfahren, was es bedeutet, wenn die urwüchsige Zerstörungskraft einer Pandemie in einem Land mit fast 1,4 Milliarden Einwohnern und einem nicht krisenresistenten Gesundheitssystem außer Kontrolle gerät. Warum nicht von einem apokalyptischen Paradigma sprechen, dessen Inzidenz weit über Indien hinausweist?

Die stets selbstbewusste Regionalmacht mit Kernwaffen im Köcher der Vermessenheit stellt sich selbst in Frage – und ist womöglich auf Hilfe des Erzfeindes Pakistan angewiesen. Erst zu Wochenbeginn hat das Stockholmer SIPRI-Institut Indien mit 71,1 Milliarden Dollar den dritthöchsten Militärhaushalt nach den USA und China attestiert. Nur was nützt alles militärische Auftrumpfen, wenn durch die Virus-Infektion eines nicht fernen Tages mehr Menschen umgekommen sein werden als in allen vier indisch-pakistanischen Kriegen seit 1947? Bis zum 28. April zählte man fast 200.000 Tote. Helfen muss und kann eine konzertierte Corona-Solidarität weltweit. Wenn es eine Universalität der Menschenrechte gibt, dann zwingt sie im Zeichen der Pandemie zu einer Weltinnenpolitik, bei der die Bedeutung von Staaten verblassen kann.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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