In seinen Memoiren Ein Zeitalter wird besichtigt erinnert sich Heinrich Mann – das von ihm bewohnte Haus Fasanenstraße 61 im Berliner Westen sei ständig von einem Portier bewacht worden. Man habe es nicht unbemerkt verlassen, schon gar nicht auf Reisen gehen können, ohne aufzufallen. So hat der Dichter am Morgen des 21. Februar 1933 keinen Koffer, sondern nur einen Schirm bei sich, auch wenn keine Schauer zu erwarten sind so mitten im Winter am Kurfürstendamm. Er besteigt eine Straßenbahn der Linie 76, deren Fahrt vorbei führt am Marmorhaus, an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, am Romanischen Café und weiter zum Anhalter Bahnhof.
Dieser Aufbruch so früh am Tage ist etwas anderes als einst der Abschied vom Elternhaus im ewigen Lübeck. Dieser Abschied ist eine Flucht. Heinrich Mann muss seinen Büchern entkommen. Er hatte recht mit seinem Emanuel Raat, dem Professor Unrat, dem tyrannischen Zuchtmeister seiner Schüler, mit Diederich Heßling, dem entfesselten Kleinbürger und untertänigen Fahnenschwenker seines Kaisers. Oder den aalglatten Parvenüs, die seinen Roman Im Schlaraffenland bevölkern. Diese Typen riskieren jetzt die große Lippe. Denn Deutschland ist erwacht. Die Raats und Heßlings sind keine Gespenster, sondern der leibhaftige Teufel, wenn es sein muss.
Versteckt in einer Ausgabe des Berliner Lokalanzeigers wird Heinrich Mann auf dem Bahnsteig von der Freundin Nelly Kröger die Fahrkarte zugesteckt. Einmal D-Zug nach Frankfurt, nicht nach Paris, Gare du Nord, wo es eigentlich hingehen soll. Das Anschluss-Billett wird er unterwegs nachlösen. Eine Emigration ohne Wiederkehr beginnt. Den Ausbürgerungsbescheid wird die „aus Schmach und Schande erwachte Nation“ schon bald hinterherschicken.
Entfesselter Kleinbürger
Eine Woche später brennt der Reichstag. Keine drei Monate später, am 10. Mai, brennen die Bücher Heinrich Manns auf dem Berliner Opernplatz – Der Untertan, Im Schlaraffenland, Professor Unrat, Die kleine Stadt und anderes. Verloren ist es nicht, dieses Werk. Einige seiner Gestalten toben sich nur aus. Das Land verfällt einer Barbarei, wie sie seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr zu erleben war. Der entfesselte Kleinbürger regiert, schlägt, schreit und schert sich keinen Deut um die holden Stimmen seiner Dichter. Remarque, Brecht, Kästner, Tucholsky, Döblin, Glaeser, Zuckmayer, Heine – Karl Marx und Sigmund Freud. Von allen muss Deutschland gereinigt werden, sind die Herren der Pogrome überzeugt.
Am 12. Februar 1933 hat Heinrich Mann – zu diesem Zeitpunkt noch Präsident der Sektion Dichtkunst in der Preußischen Akademie der Künste – zusammen mit der Bildhauerin Käthe Kollwitz einen Dringender Appell überschriebenen Aufruf veröffentlicht. Der beginnt mit dem Satz: „Die Vernichtung aller persönlichen und politischen Freiheit in Deutschland steht unmittelbar bevor.“ Den Mut, dies zu sagen, haben um diese Zeit nur noch wenige, weil alle anderen die Wahrheit zur Lüge erklären oder für selbstmörderisch halten.
Umso mehr wird der Appell zum Vorbild für jenes Manifest gegen die zunehmende Barbarisierung des öffentlichen Lebens, wie es in Lion Feuchtwangers Erzählung Die Geschwister Oppermann auftaucht. Dieses Buch, geschrieben unter dem Druck und Eindruck des Geschehens in Deutschland und noch 1933 vom Querido-Verlag in Amsterdam gedruckt, wird zum ersten antifaschistischen Exilroman, seit Hitler die Macht in den Schoß fiel. Feuchtwanger verließ Berlin im November 1932 wegen einer Vortragsreise durch die USA und ahnte wohl kaum, dass es keinen Weg zurück mehr geben würde. Nach dem Reichstagsbrand plündert ein SA-Trupp sein Haus an der Wilmersdorfer Mahlerstraße und zerstört das Manuskript für den zweiten Teil der Josephus-Trilogie. Da lodern sie schon einmal auf, die Flammen vom 10. Mai 1933.
Im französischen Exil erreicht Feuchtwanger das Angebot einer britischen Film-Gesellschaft, er solle ein Drehbuch über den Sittenverfall in seiner Heimat schreiben. Ende Mai 33 liegt das erbetene Exposé über die Geschwister Oppermann vor, doch schreckt den Auftraggeber plötzlich die eigene Courage, und er winkt ab. So wird aus dem Skript ein Roman, der dem tragischen Schicksal eines deutsch-jüdischen Bildungsbürgers nachgeht, der zu spät merkt, wie unaufhaltsam ein Absturz ins Bodenlose sein kann.
Gustav Oppermann ist der Seniorchef eines renommierten Möbelunternehmens, dazu Privatgelehrter und Autor literarischer Essays, Feingeist und Weltbürger. Gerade eben, zu seinem 50. Geburtstag, hat ihm ein Verlag mitgeteilt, er wolle die Lessing-Biografie drucken, an der Gustav arbeitet. Umso beschwingter reitet der Verfasser aus am Morgen. Hinein in den vom Frühnebel dampfenden Grunewald vor seiner Villa in der Max-Reger-Straße. Nach dem 30. Januar 1933 wird dort weiter tapfer geglaubt, Hitler werde nicht als Kanzler, sondern Ausrufer einer Jahrmarktsbude enden. Eine Nation, die ohne Goethe und Lessing undenkbar sei, werde sich durch einen Anstreicher nicht um Vernunft und Verstand bringen lassen. Höchst amüsiert liest man sich das Gestammel aus Hitlers Mein Kampf vor und vergisst einen Satz Goethes, der doch schrieb: „In unruhigen Zeiten wirft sich das Volk von einer Seite auf die andere wie ein Fieberkranker.“ Im Theaterklub hört Gustav Oppermann noch Ende Februar 33, nur vorübergehend habe man die Landsknechte an den Trog gelassen. Vorn großes nationalistisches Theater, hintenraus die Geschäfte wie immer.
Auf einmal entblättert
Also unterschreibt er – überzeugt von der Widerstandskraft der Demokratie – das Manifest gegen die zunehmende Barbarisierung des öffentlichen Lebens, um bald zu erfahren, auch dadurch steht die Existenz des eigenen Möbelhauses auf der Kippe. Die Nazipresse schießt sich auf ihn ein und zwar gründlich. Gustav fragt bestürzt: „Glauben Sie, dieses ganze Volk von 65 Millionen Menschen hat aufgehört, ein Kulturvolk zu sein?“ Ja, es hat. Im Irrenhaus lebt sich’s besser.
Und dann prasseln die Ereignisse wie Schläge auf seinen Kopf. Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes gibt ihm ein Freund, der Anwalt Mühlheim, zu verstehen, dass er allein wegen seines Namens unter dem „Antibarbarischen Manifest“ nun gejagt werde wie ein räudiger Hund. „Ich sage dir zum letzten Mal, wenn du dich nicht einlochen lassen willst oder noch Schlimmeres, dann türme.“ Der distinguierte Großbürger, der Morgenreiter und Kunstfreund, bei dem alles wie aus einem Guss wirkt, wird auf einmal entblättert. Schicht um Schicht seines eben noch unbeschwerten Lebens muss er sich vom Leibe reißen, bis nichts sonst übrig bleibt als die nackte Existenz. Und die Einsicht, dass aus dem Deutschland seines Lessings ein Tollhaus geworden ist, „in dem die Kranken sich ihrer Wärter bemächtigt haben“, wie Lion Feuchtwanger schreibt.
Wer geglaubt hat, auf die Plumpheit der Nazis könne doch kein Mensch ernsthaft hereinfallen, der irrt. Je plumper und aggressiver gelogen wird, desto ergebener glauben die Menschen daran. Das klingt nicht nur nach einer Menschheitserfahrung, das ist eine und bleibt eine bis heute. Die Glasur der Zivilisation ist erstaunlich dünn und rasend schnell entsorgt. Es lohnt sich und kann überlebenswichtig sein, mit der Bosheit und verbrecherischen Inbrunst seiner Feinde zu rechnen. Wenn der auf Anstand und Form bedachte Gustav Oppermann in ihnen nur unerbittliche, der Gosse entstiegene Gegner sieht, ist er ein Narr und Träumer.
Als er schließlich – zur Flucht gezwungen – in den Nachtzug nach Bern steigt, ist das braune Rollkommando schon unterwegs zur Max-Reger-Straße. Die Landsknechte haben den Hausherrn knapp verpasst, also halten sie sich an seine Bibliothek, räumen aus und stehlen, soviel die Arme tragen können. Nur die Goethe- und Lessing-Bände bleiben verschont. Es ist auch so mehr als genug, was sie aufladen und wegfahren. Der Ascheregen wird ergiebig sein.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.