Vor 30 Jahren hauchte der Staat DDR sein Leben aus. Alles scheint unausweichlich und folgerichtig. Doch sind die letzten Tage vor dem 3. Oktober 1990 kein stilles Innehalten, sondern bewegt, unberechenbar, teilweise dramatisch. Sie haben es verdient, erinnert zu werden. Mit einer kleinen Serie auf freitag.de wollen wir das versuchen.
Die Volkskammerabgeordneten der SPD wie von Bündnis 90 dürften aus Überzeugung gehandelt haben. Für die Fraktion der Deutschen Sozialen Union (DSU) hingegen sollte eher Rache oder Revanche der Antrieb gewesen sein. Unabhängig davon, was sie im einzelnen bewegt – alle wollen das Gleiche, als am 13. September 1990 in der Volkskammer eine geheime Abstimmung beantragt wird.
Der 37-jährige Jurist Peter-Michael Diestel soll als Innenminister zum Rücktritt gezwungen werden. Offenbar halten es die Antragsteller für angebracht, in einer heiklen Frage ein Exempel zu statuieren. Sie vereint der Vorwurf an Diestel, er habe bei der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) wie der Nachfolgeinstanz, dem Amt für Nationalen Sicherheit (ANS), zu lasch, zu zögerlich, vor allem zu nachsichtig agiert. In seinem Ministerium seien – bis hin zum Personenschutz – nach wie vor Kader präsent, die längst suspendiert gehörten.
Dass sich bei diesem Versuch eines Ministersturzes die DSU hervortut, überrascht nicht weiter. Bei der Regierungsbildung nach der Volkskammerwahl vom 18. März wurde Diestel als DSU-Mitglied und mit DSU-Mandat zum Ressortchef berufen. Anfang Juni verließ er die Partei, um ab 3. August die stolzen Reihen der CDU-Ost zu stärken und zu schließen. Eine gesamtdeutsche Zukunft wirft ihre Schatten voraus.
Einer nach dem anderen
In der Parlamentsdebatte am 13. September verteidigt sich Diestel, nicht er, der zuständige Volkskammerausschuss arbeite zu langsam. Auch Ministerpräsident de Maizière tritt ans Pult, um sich für seinen ersten und einzigen Stellvertreter nachdrücklich einzusetzen. Er tut das aus gutem Grund. Sein Kabinett wird zwar keinen Monat mehr im Amt sein, ist aber inzwischen in bedenklicher Weise zum Provisorium geschrumpft.
Erst haben am 24. Juli die Liberalen, dann am 19. August die Sozialdemokraten die „Große Koalition“ verlassen. Zuvor kam ein Ressortchef nach dem anderen abhanden – Wirtschaftsminister Pohl (CDU) wegen Unfähigkeit, Agrarminister Pollack (parteilos) wegen peinlicher Hilflosigkeit gegenüber aufgebrachten Genossenschaftsbauern, Justizminister Wünsche (Bund Freier Demokraten/BFD) wegen seiner Vergangenheit und Finanzminister Walter Romberg (SPD) wegen störrischen, ehrbaren Widerspruchs.

Foto: imago images / Rainer Unkel
Letzterer sorgt für den spektakulärsten Fall eines Abgangs. Die Demission Rombergs geht weder auf fehlende Expertise noch hochgespielte Altlasten zurück. Im Gegenteil, was ihm zusetzt, ist sein Amtspendant in Bonn. Helmut Kohls Finanzminister Theo Waigel (CSU) empfindet diesen Minister als Frechheit und Zumutung – da ist einer, der ihn über alle Maßen stört.
Das erste Mal fällt Romberg auf, als er am 14. Juni gegen den Kabinettsbeschluss der Regierung de Maizière stimmt, wonach bei dem sich abzeichnenden Eigentumsstreit zwischen Ost und West das Prinzip „Rückgabe statt Entschädigung“ Priorität genießt. Er argumentiert, dies müsse aus Gründen der materiellen Sicherheit, der Gerechtigkeit, aber auch des Respekts vor der Lebensleistung vieler DDR-Bürger – und das sind sie zu diesem Zeitpunkt ja noch – anders geregelt werden.
Auch würden durch voraussichtlich viele Jahre dauernde juristische Konflikte notwendige Investitionen blockiert. Nur zwei Minister verweigern sich bei dieser heiklen Frage der Kabinettsräson, neben Romberg Justizminister Kurt Wünsche, der in gleicher Funktion schon der Regierung Modrow angehört hat. Dort für die Blockpartei LDPD präsent, schafft er zwar den Sprung ins Kabinett de Maizière, gilt aber als Altlast und muss am 16. August 1990 auch wegen des Vorwurfs, Stasi-Kontakte unterhalten zu haben, abtreten.
So ist es, so bleibt es
Zurück zu Walter Romberg. Er ist in Bonn auch deshalb wenig gelitten, weil er den Sommer über bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag auf einigen aus seiner Sicht unverzichtbaren Essentials besteht. Zum Beispiel in der Rentenfrage. Romberg fordert, wie es im Koalitionsvertrag der Regierung de Maizière steht, eine Mindestrente. Zudem sollten die ab 1. Juli 1990 mit der Währungsunion eingeführten Sozialversicherungsbeiträge nur stufenweise dem westdeutschen Niveau angeglichen werden.
Ein Aussperrungsverbot bei Streiks im Osten will Romberg ebenfalls im Einigungsvertrag verankert wissen. Schließlich fragt er nach der Finanzausstattung für die ostdeutschen Länder und regt an, eine Ministerpräsidentenkonferenz Ost einzurichten, die über das Treuhandvermögen und damit die Zukunft der DDR-Industrie entscheidet. Nichts von alldem lässt sich durchsetzen. Weder in der Renten-, noch der Beitrags-, noch der Streikfrage. Die Regierung Kohl stellt klar: Was die Treuhand auch immer an Werten verwaltet, ist öffentliches Bundesvermögen und dem Bundesfinanzminister unterstellt. So ist es, so hat es zu bleiben.
Romberg, der Aufsässige und Eigenwillige, der wenigstens andeutet, dass man um elementarer Interessen willen hart verhandeln kann, soll dazu keine Gelegenheit mehr haben. Ministerpräsident de Maizière entlässt ihn am 18. August, vertreibt damit die SPD aus seiner Regierung und bringt diese um den Ruf, mehr als ein Domestik zu sein.
Würde er nun auch noch den selbstbewussten, eloquenten und geltungswilligen Diestel verlieren – welche Schmach. Dazu aber kommt es nicht. De Maizière kann aufatmen. Die Volkskammer vermag Peter-Michael Diestel nicht das Vertrauen zu entziehen. Die dafür erforderliche absolute Mehrheit von 201 Abgeordneten wird verfehlt.
Der Weg zur Einheit – Vor 30 Jahren
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