In der Asservaten-Kammer

NATO Mit dem Aufmarsch Ost werden die überlieferten Abschreckungsmuster des Kalten Kriegs bemüht
Ausgabe 25/2016
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von der „russischen Aggression“
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg spricht von der „russischen Aggression“

Foto: John Thys/AFP/Getty Images

In sein 1809 verfasstes Lehrbuch der französischen Journalistik nahm Heinrich von Kleist einen Paragrafen 6 auf, in dem es hieß: „Was man dem Volk dreimal sagt, hält es für wahr.“ Daraus wurde über die Epochen und Gesellschaftssysteme hinweg ein Jahrhundertbrauch, auf den Verlass ist. So auch im Frühsommer 2016, wenn NATO-Generalsekretär Stoltenberg die schon im Kalten Krieg beschworene Bedrohung aus dem Osten bemüht und zur „russischen Aggression“ erklärt. Wie die abläuft, bleibt nebulös. Aufmarsch, Angriff und Okkupation, wie sie Aggressionen gewöhnlich kennzeichnen, lassen sich nicht vorweisen. Die russische Armee steht nicht vor Warschau oder Tallinn. Was Stoltenberg indes kaum irritiert, sondern anspornt, sich weiter aus der Asservaten-Kammer des Ost-West-Konflikts zu bedienen und neben dem Bedrohungsmythos auch auf die Abschreckungsdoktrin von einst zurückzukommen.

Ab Januar 2017 – so haben es die NATO-Verteidigungsminister soeben beschlossen, und der NATO-Gipfel Anfang Juli in Warschau dürfte dies gutheißen – werden vier Panzerbataillone der Allianz von je 1.000 Mann nach Polen, Estland, Litauen und Lettland verlegt. Offiziell handelt es sich um rotierende Verbände, die nie lange bleiben sollen, wo sie stehen. Dadurch werde, so heißt es, die NATO-Russland-Akte von 1997 respektiert, die „substanzielle Kampftruppen“ in den östlichen Paktländern untersagt. Ob mit oder ohne Rotation – fest steht, an der Grenze zu Russland werden Militärverbände disloziert wie noch nie seit der NATO-Osterweiterung zwischen 1999 und 2004. Der Vorgang scheint geeignet, für eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu sorgen. Da Russland den Aufmarsch Ost seinerseits als Bedrohung deuten wird, ist mit Gegenmaßnahmen zu rechnen. Kann es bessere Beweise für die „russische Aggression“ geben? Das muss man dem Volk nicht dreimal sagen, das versteht sich.

Was an diesem Truppentransfer besonders verblüfft: Auch wenn osteuropäische EU-Staaten das vereinte Europa inzwischen so behandeln, als gehörten sie nicht mehr dazu, werden sie in der NATO als ehrbare Klientel hofiert. Je mehr der PiS-Regierung in Warschau europäische Solidarität suspekt ist, umso nachdrücklicher darf sie nach atlantischer Solidarität rufen. Und wird erhört. EU-Dissidenten pochen auf NATO-Konsens und genießen Bündnisloyalität, die zudem als innenpolitische Versicherungspolice geschätzt wird und funktioniert. NATO-Führung und Regierungseliten Osteuropas verfallen damit einem osmotischen Zustand des Gebens und Nehmens, der vorzugsweise einem Motiv gehorcht: Alles zu vermeiden, was die Beziehungen mit Russland entkrampft und die politisch-strategische Aufwertung der osteuropäischen NATO-Mitglieder als Frontstaaten des Bündnisses relativiert. Wüsste man es nicht besser, wäre in Washington Donald Rumsfeld als Souffleur zu vermuten.

Tatsächlich unterliegt der Aufmarsch Ost einer anderen Intention als der, eine „Aggression“ abzuwehren. Er rekrutiert ein symbolträchtiges Aufgebot, um ein mit Ressentiment und Feindseligkeit aufgeladenes Politikum zu schaffen, das Beteuerungen aus Paris, Rom oder Berlin konterkariert, man wolle im Verhältnis zu Moskau wieder mehr Normalität. Frank-Walter Steinmeier nennt das „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“. Ein für seine Verhältnisse imposanter rhetorischer Ausfallschritt, dem wohl die Gewissheit zugrunde liegt, dass Russland derartige Provokationen weder erschüttern noch kompromisswillig stimmen werden. Stattdessen nehmen sie deutscher Vermittlung im Minsk-Prozess, was die unbedingt braucht – die Glaubwürdigkeit des Emissärs. Dass ein Außenminister seine Diplomatie und sich selbst nicht derart in Frage gestellt sehen möchte, liegt auf der Hand.

Verteidigungsministerin von der Leyen hat im Brüsseler NATO-Hauptquartier ausdrücklich dafür geworben, die zusätzlichen Verbände für Litauen unter ein deutsches Kommando zu stellen. Als säßen sie und Steinmeier nicht im gleichen Kabinett.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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