Vor 30 Jahren hauchte der Staat DDR sein Leben aus. Alles scheint unausweichlich und folgerichtig. Doch sind die letzten Tage vor dem 3. Oktober 1990 kein stilles Innehalten, sondern bewegt, unberechenbar, teilweise dramatisch. Sie haben es verdient, erinnert zu werden. Mit einer kleinen Serie auf freitag.de wollen wir das versuchen.
Vorsorge tut not, und die trifft „elf99“, das Jugendmagazin des Deutschen Fernsehfunks (DFF), Ende September 1990 in der Person von Chefredakteur Georg Langerbeck bei einer Pressekonferenz. Oder versucht es zumindest. Noch sendet man unter dem Dach der Adlershofer Anstalt im Süden Ostberlins. Nur wie lange wird das halten, so sturmerprobt es auch sein mag?
Immerhin droht ein Abwicklungssog, den der Einigungsvertrag nach Kräften befördert. Dessen Artikel 36 schreibt vor, dass spätestens bis zum 31. Dezember 1991 die zentralen Sendeanstalten von Hörfunk und Fernsehen der DDR zu liquidieren oder „föderalen Strukturen“, sprich: der Hoheit der fünf neuen Bundesländer, zu unterstellen sind. Im Vorgriff auf diese Transformation zeichnet sich bereits eine veränderte Vergabe der Fernsehfrequenzen ab. Die ARD beansprucht die des ersten DFF-Programms, das ZDF eine bis dato im Osten ungenutzte Frequenz, um nach dem 3. Oktober möglichst bald deutschlandweit ausstrahlen zu können.
Flaggschiff der Medienwende
In der Konsequenz heißt das, die beiden Vollprogramme des DFF müssen in einem zusammengeführt und deshalb zusammengestrichen werden. Wann diese Eroberung der Lüfte stattfindet, steht nicht genau fest. Noch 1990 auf jeden Fall. Es ist daher ratsam, Sendeplätze zu reklamieren und eine nunmehr gesamtdeutsche Ausrichtung bei „elf99“ zu betonen, wie das besagter Pressekonferenz zu entnehmen ist. Das Magazin will „Berater und Anwalt aller Jugendlichen in Gesamtdeutschland“ beim besseren Kennenlernen sein. Vorgesehen als Formate sind weiterhin ein Elf99 Spezial, das Musikmagazin Coutdown, dazu ein Mädchenmagazin.
Zu diesem Zeitpunkt werden Sendungen mit dem Label „elf99“ seit mehr als einem Jahr ausgestrahlt. Versehen mit moderner Produktions- und Studiotechnik, ausgestattet mit den besten Journalisten, Regisseuren, Grafikern und Cuttern zwischen 25 und 35, die sich in der Anstalt auftreiben ließen, fiel die Premiere auf den 1. September 1989. Das Magazin geriet in seiner kurzen Entstehungszeit zum Kraftakt und sollte von der Wirkung her der große Wurf sein. Der gelingt zweifellos, doch nicht wie gedacht. Zu spät haben sich Agitationskommission im SED-Zentralkomitee und Adlershofer Intendanz dazu entschlossen.
Und überhaupt, mit einer Programminnovation allein lässt sich aus der jüngeren Generation kaum jener Teil zurückgewinnen, der ernüchtert, entpolitisiert und entidealisiert die DDR abgeschrieben hat. Die Bilder aus den bundesdeutschen Botschaften in Prag, Warschau und Budapest sprechen Bände. Sie hinterlassen mehr Eindruck als die Musik-Clips und Promi-Talks eines Jugendmagazins.
Dennoch ist es „elf99“ beschieden, sich über alle Maßen zu etablieren und populär zu werden. Man kann zwar dem ursprünglichen Auftrag, Jugend, Staat und System auszusöhnen, nicht mehr nachkommen. Doch vergibt der Herbst '89 mit Wandel und Wende einen anderen. Wenn sich das Fernsehen der DDR – inzwischen wieder umbenannt in Deutscher Fernsehfunk (DFF), wie es bis Ende der 1960er Jahre hieß – als Medium der demokratischen Erneuerung empfiehlt, dann auch dank der Rolle, die „elf99“ in jener Zeit übernimmt. Sie schwankt zwischen brisanter Investigation und besänftigender Deeskalation.
Mischbatterien im Visier
Ersteres verbindet sich vor allem mit der „Wandlitz-Reportage“, die am 23. November 1989 ausgestrahlt wird, nachdem ein „elf99“-Team zusammen mit anderen zum Lokaltermin zugelassenen DDR-Journalisten die Wald- und Wohnsiedlung des SED-Politbüros im Norden Berlins durchstreift. Armaturen im Badezimmer, Mischbatterien in der Küchenzeile, Bananen im Dorfkonsum werden abgefilmt.
Über allem thront die Frage, ob die „führenden Genossen“ mit ihrem Lebensstandard einige Etagen über dem zuhause waren, was in der DDR üblich und möglich war. Wer genau hinsah und Hellerau-Möbel wie Miele-Spüler erblickte, der wusste: Jeder gut verdienende DDR Handwerksmeister war mindestens genauso, wenn nicht besser ausgestattet. Sofern er seinen Leistungswillen in DM honoriert sehen wollte – allemal. Und ein Leben hinter Wachposten und Sicherheitszäunen zubringen, musste er auch nicht.
Doch interessierte das in diesem Augenblick? Was der Wandlitz-Voyeurismus in einem aufgewühlten Land auslöste, übertraf die Wirkung von Schweigemärschen, Montagsdemos und Gottesdienste in der Leipziger Nikolaikirche erheblich.
Nach Kräften deeskalieren kann und will „elf99“ hingegen am 5. Dezember 1989. Am Abend dieses Tages dringt eine Abordnung aus dem Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ – es zählt gut tausend Soldaten und Offiziere, deren Kasernen im Ostberliner Ortsteil Adlershof dem Fernsehzentrum direkt gegenüberliegen und bis dahin dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt sind – auf das Fernsehgelände vor.
Soldaten des Volkes
Es wird verlangt, in Senderäume eingelassen zu werden, um dort innerhalb des laufenden Programms eine Erklärung abzugeben. Grundtenor – auch die Soldaten dieser Sondereinheit seien „das Volk“. Sie hätten es nicht verdient, denunziert, verunglimpft und bedroht zu werden, wie das in diesen Wendewochen der Fall ist. Einer demokratischen Erneuerung der Gesellschaft werde man sich nicht entgegenstellen.
Der Vortrupp ist unbewaffnet, gibt aber zu verstehen, dass im Regiment selbst ein bewaffneter Verband angetreten sei, um dem vorgebrachten Anliegen notfalls Nachdruck zu verleihen. Kurzzeitig scheint nicht ausgeschlossen, dass dem Fernsehen die militärische Aufsicht winkt.
Verhandlungen mit dem neuen Generalintendanten Hans Bentzien führen dann jedoch zu einer einvernehmlichen Lösung: Ziehen die Soldaten wieder ab, wird ein Team von „elf99“ umgehend in die Höhle des Löwen entsandt, lautet das Angebot. Es soll bei einer Vollversammlung des Wachregiments drehen, wenn dessen Nöte, Sorgen und Forderungen artikuliert werden. So geschieht es. Die unmittelbar nach der Aufnahme ausgestrahlte Reportage heißt Neues von Felix und zeigt u.a. ein Transparent über dem Podium des Soldatenmeetings, das die Aufschrift trägt: „Auch wir sind das Volk!“
Von diesem Bonus zehren zu wollen, ist nachvollziehbar, wenn es um Überleben und Zukunft von „elf99“ geht, die im September 1990 alles andere als gesichert ist. Und es letzten Endes nie mehr sein wird. Die Redaktion überlebt zwar den DFF und findet bei RTL einen Sendeplatz, doch weder Stellenwert noch Popularität von einst lassen sich erhalten. Dieses Magazin hatte seine Zeit, weil es einer Zeit gerecht wurde, in der am Morgen offen war, was am Abend Programm sein würde. Doch damit ist es vorbei.
Nach einem kurzen Intermezzo beim Sender Vox in Köln ist im Frühjahr 1994 endgültig Schluss.
Der Weg zur Einheit – Vor 30 Jahren
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