Vor 30 Jahren hauchte der Staat DDR sein Leben aus. Alles scheint unausweichlich und folgerichtig. Doch sind die letzten Tage vor dem 3. Oktober 1990 kein stilles Innehalten, sondern bewegt, unberechenbar, teilweise dramatisch. Sie haben es verdient, erinnert zu werden. Mit einer kleinen Serie auf freitag.de wollen wir das versuchen.
Am Mehringplatz in Kreuzberg beginnt die Aktion gegen zwölf, und man zählt vielleicht 5.000 Teilnehmer. Als sich der Zug in Bewegung setzt und seinen Weg findet über die Koch- wie die Wilhelmstraße in Richtung Mitte, werden es entschieden mehr, sodass der Marsch des Unmuts und Aufbegehrens lange nicht abreißt, als die Leipziger Straße überquert wird. Unter den Linden sind es schließlich um die 20.000 Marschierer und noch immer so viel, als am frühen Nachmittag die Kundgebung im Lustgarten beginnt.
An diesem 29. September 1990 wehren sich Frauen und Männer in Berlin gegen einen gesamtdeutschen Vollzug des Paragraphen 218. Für den Osten wäre das nicht nur diskriminierend, sondern deklassierend. Die Regierung Kohl macht Anstalten, die gesamtdeutsche Gebärmutter kontrollieren zu wollen. Was sich für die Zeit nach dem 3. Oktober abzeichnet, ist das Bestreben, diesen Paragraphen auf das Gebiet der DDR auszudehnen und damit – wie es die Schauspielerin Walfriede Schmitt für den Unabhängigen Frauenverband (UFV) auf dem Abschlussmeeting sagt – den Willen der letzten DDR-Volksammer zu verhöhnen.
Bis auf die rechtsnationale Deutsche Soziale Union (DSU) haben sich in diesem Parlament alle Parteien für den Erhalt der in der DDR seit 1972 geltenden Fristenlösung ausgesprochen. Danach konnte eine Frau in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft selbst entscheiden, ob es zu einem Abbruch kommen sollte. Sie brauchte dazu keine Einwilligung des Ehemanns oder von wem auch immer. Sie konnte mit Ärzten rechnen, die das Gesetz dazu verpflichtete, sie zu beraten – über den Eingriff selbst, mögliche Folgen und eine künftige Verhütung.
Es ist „5 vor 12“
Die DDR-Praxis erhalten zu wollen, war in dem seit Anfang April 1990 vorliegenden Verfassungsentwurf des Rundes Tisches nachzulesen, der freilich von den Regierungsparteien um Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) bis hin zur SPD-Ost mit Missachtung gestraft wurde. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie man mit dem sonst verklärten Erbe des Wendeherbstes umgehen konnte. Der Auftrag, eine neue Verfassung zu schreiben, die einer DDR gerecht werden sollte, wie sie sich zwischen Oktober und Dezember 1989 abgezeichnet hatte, kam vom Zentralen Runden Tisch. Es hatte dort kein einstimmiges, aber ein relativ einmütiges Votum gegeben.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit 1976 die unter der Regierung von Helmut Schmidt (SPD) novellierte Indikationslösung, bei der soziale Kriterien mehr Beachtung finden. Jedoch blieb es dabei, dass nur dann straffrei abgetrieben werden durfte, wenn bestimmte Umstände, etwa eine Vergewaltigung oder absehbare Gefahren für das Wohl von Mutter und Kind, dazu berechtigten. Anders verhielt es sich, wenn die freie Selbstbestimmung einer Frau dem Schwangerschaftsabbruch zugrunde lag.
Es ist „5 vor 12“ rufen die Teilnehmer dieses deutsch-deutschen Protestmarsches, der am verletzten Septembertag des Einheitsjahres von West nach Ost führt. Der Menge voran fährt ein Lautsprecherwagen, auf dem die Grünen-Politikerin Claudia Roth sitzt, durchs Megaphon redet, aber nur zu verstehen ist, wenn es die Sprechchöre zulassen. Skandiert wird „Kinder, Küche, Heim und Herd sind kein ganzes Leben wert!“ – „Kohl weiß, was Frauen wünschen!“.
Als bei der Kundgebung im Lustgarten für die PDS deren damalige Vizevorsitzende Marlies Deneke ans Pult tritt, beginnen die Glocken des Doms zu läuten und lassen die Rednerin fast verstummen. Sie klingen wie kirchlicher Protest des berlin-brandenburgischen Protestantismus, auch wenn in der DDR die Katholische Kirche sehr viel mehr mit der Fristenlösung haderte als die Evangelische.
„Uns gab's nur einmal“
Letztens Ende wird es in Gesamtdeutschland, und das können sich die Demonstranten als Erfolg ankreiden, vorübergehend einen Fortbestand unterschiedlicher Rechtslagen geben. Das ändert sich Mitte 1992, als mit dem "Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung" ein Kompromiss zwischen Indikations- und Fristenlösung gefunden wird. Nun besteht eine Beratungspflicht, die eingehalten werden muss, bevor eine Schwangerschaft abgebrochen werden darf. Für die Frauen im Osten ist das, gemessen an den in der DDR geltenden Regelungen, kein Fortschritt.
„Uns gab's nur einmal“ wird zur Melodie aus dem Ufa-Schinken Der Kongress tanzt am Abend des 29. September 1990 im Kabarett an der Friedrichstraße gesungen. Das letzte DDR-Programm der „Diestel“ hat Premiere im endlich wieder ausverkauften Haus, um sich einer mal leicht, mal schwer wehmütigen Abschiedsstimmung hinzugeben. „Heut' werden alle Märchen wahr ! Heut' wird mir eines klar“ geht die Schnulze weiter und bringt zum Ausdruck, wie zeitlos Flitter und Floskeln sein können. Vier Tage vor dem Abtauchen der DDR allemal.
Der Weg zur Einheit – Vor 30 Jahren
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