Am 10. April 2010 ereilt Polen ein Schicksalsschlag, der geeignet scheint, dem Land einen historisch verbürgten Opferstatus zu bestätigen. Als eine Regierungsmaschine in der Nähe der westrussischen Stadt Smolensk abstürzt, überlebt niemand. Unter den Toten sind Präsident Lech Kaczyński, hohe Militärs, Parteiführer, Veteranen der Exilregierung aus dem II. Weltkrieg – sie sterben auf dem Weg nach Katyn, wo der 4.400 polnischen Offiziere gedacht werden soll, die dort im Mai 1940 auf Geheiß Stalins erschossen wurden, um einen Teil der polnischen Elite auszulöschen. Der Absturz, offenbar ausgelöst durch schlechte Sicht und die Weigerung Kaczyńskis, eine vorzeitige Landung zu erlauben, bedient einen Mythos: Polen muss leiden, um zu existieren. In diesem Sinne hat die seit 2005 mit einer Unterbrechung regierende rechtskonservative PiS das Narrativ von der ewig geprüften Nation, die sich äußerer wie innerer Feinde erwehren muss, zur Staatsdoktrin erhoben.
Wer dieser Legende trotzt, muss damit rechnen, stigmatisiert zu werden. Nationalbewusst handeln, kann heißen, Geschichte zu verdrängen.
So fällt die 1871 in Zamość, 250 Kilometer südlich von Warschau, geborene Sozialistin, Internationalistin – und Polin Rosa Luxemburg unter das Verdikt einer Unwürdigen und Abtrünnigen. Ihr geistiges Erbe ist im Schrein der nationalen Erinnerung unerwünscht, wenn nicht verpönt. Der Missachtung verfallen besonders ihre theoretischen Arbeiten, Reden und Artikel, die sie der „polnischen Frage“ widmet, als die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Nachdruck stellt und konträre Visionen im Raum stehen, um Überleben oder Untergang zu beschwören. Luxemburg bleibt mit ihren Auffassungen der Zeit verhaftet, doch weisen ihre Zweifel an einer Renaissance des Nationalstaates darüber hinaus.
1900 ist Polen bereits seit mehr als einem Jahrhundert „verloren“, aufgeteilt zwischen dem Deutschen Reich, Russland und Österreich-Ungarn. Vor und nach der Russischen Revolution von 1905, die auch das vom Zarenreich beherrschte „Kongresspolen“ erfasst, beschäftigt Luxemburg stets von Neuem die Frage, ob eine nationale Befreiung ihrer Heimat zur Restauration des Nationalstaats in alter Form führen müsse. Sei nationale Autonomie, gegründet auf kulturelle Identität, nicht ratsamer? Zumal das beanspruchte Staatsgebiet nur zu 60 bis 70 Prozent von Polen besiedelt wird, die auskommen müssen mit dort ebenfalls verwurzelten ethnischen wie religiösen Gemeinschaften – mit Russen, Deutschen, Weißrussen, Litauern, Ukrainern, Juden. Luxemburg nimmt Bezug auf Überlegungen in der österreichischen Sozialdemokratie, den Vielvölkerstaat der Habsburger Monarchie nicht in Nationalstaaten zu überführen, sondern einen „Nationalitätenstaat“ zu erwägen, der autonome Völkerschaften überwölbt.
Besser mit den Russen
Ein Muster für Polen, glaubt Luxemburg. Denn was nutzt dem Proletariat ein Staat der Bourgeoisie, des Klerus und Adels, deren patriotisches Bekunden kein Bekenntnis sein muss? Sollte sich die polnische Arbeiterschaft nicht mit den russischen Klassengenossen verbinden, statt in einen Staatskäfig gesperrt zu werden? Auch sei zu bedenken, wie sehr polnische Sozialdemokraten im Łódźer Textil- oder oberschlesischen Kohlenrevier die Nähe zur deutschen Sozialdemokratie ermutige, der stärksten Formation in der II. Internationale.
Auf dem Dresdner SPD-Parteitag im September 1903 spricht sie über die „polnische Sonderorganisation“ und argumentiert, dass sich jedes Tun „in unsre allgemeinen Bestrebungen zur Emanzipation der Arbeiterklasse“ einfügen müsse. Es könne „nicht Aufgabe des Proletariats sein, neue Klassenstaaten zu schaffen“. Vielmehr gehe es um „das Recht der Selbstbestimmung in der sozialistischen Gesellschaft“. Ein Jahr zuvor sagt sie vor Genossen in München, „dass wir nicht als Polen oder Deutsche, sondern als Arbeiter zur Partei gehören“.
In ihrer 1897 in Zürich eingereichten Dissertation Die industrielle Entwicklung Polens hat Rosa Luxemburg analysiert, wie sehr die polnische Industriebourgeoisie dem großen, sich öffnenden russischen Markt ihren Aufstieg verdankt und das eigene Proletariat wie von selbst im Schlepptau hat. In den Jahren danach unterstützt sie die Sozialdemokratie Polens und Litauens (SDKPiL) als internationalistische Avantgarde und bekämpft die Polnische Sozialistische Partei (PPS), die sich auf einen – aus ihrer Sicht – „kleinbürgerlichen Sozialpatriotismus“ versteift, für Luxemburg der Kampfbegriff damaliger Kontroversen. Was sie über alle Maßen abstoße, sei das romantisierende Vergöttern einer nationalen Heimstatt durch erklärte Sozialdemokraten, schreibt sie in der Neuen Zeit, dem von Karl Kautsky lektorierten Theorieorgan der SPD. Da es Polen erspart bleiben müsse, sich zwischen Russland und Deutschland zu behaupten, komme es darauf an, mit dem Klasseninstinkt den internationalistischen Geist des polnischen Proletariats zu wecken, auf dass es sich mit dem Nationalstaat nicht abspeisen lasse.
Im Grunde genommen berührt das eine – gewiss unter anderen Umständen – bis heute offene Frage: Ist Polen ein europäischer Staat oder ein nationaler Staat in Europa? Erklärt das Selbstbild der stets von Neuem geprüften Nation – einem Staatsdasein auf der Kippe – einen cholerischen, oft theatralischen Nationalismus? Als eine polnische Regierung (seinerzeit keine der PiS, sondern der linken SLD) nach dem EU-Beitritt 2004 gegen den Vertrag von Nizza aufbegehrt, findet sie Gefallen an einer melodramatischen Parole: „Nizza oder Tod!“
Bei Luxemburgs einstiger Polemik gegen die nationale Enge des „Sozialpatriotismus“ denkt man unwillkürlich an den nationalkonservativen Kanon im derzeitigen Polen. Die Devise, unser Heim gegen euer fremdes Haus, unser Patriotismus gegen euer Patriarchat Europa, wird auch durch eine aktive Sozialpolitik der PiS gestützt. Man leiste das aus eigener Kraft, ätzt Parteichef Jarosław Kaczyński. Sei man dem Diktat Moskaus entkommen, um dem aus Brüssel zu verfallen? Die Redensart reflektiert – sicher ungewollt – einen Widerspruch, der Polens nach wie vor als fragil empfundene Mittellage, diesmal zwischen der EU und Russland, reflektiert. Schließlich bedarf die innige Feinschaft zu Moskau des Rückhalts in Brüssel. Sie wäre sonst nicht durchzuhalten. Oder als Bedrohungslüge entlarvt. Wollte Russland Polen überrollen, wäre es als Einzelkämpfer eine leichte Beute. Unterbleibt der Zugriff, ist Putin nicht so gefräßig wie stets unterstellt.
Diese hochpatriotisch gestimmte Politik mag sich aus historischen Gründen für berufen halten – mit ihrer inneren Logik ist es nicht weit her. Anders der Internationalismus Rosa Luxemburgs. Da sie den Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft für unvermeidbar hielt und die daraus folgende Kettenreaktion über alle Grenzen hinweg ebenso, mündete das in die Annahme: Das siegreiche Proletariat werde sich mit dem althergebrachten Nationalstaat nicht groß aufhalten. Sie sah darin kein sich erfüllendes Schicksal, sondern eine erlösende, künftige Kriege verhindernde Mission.
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