Ins Beinhaus der Geschichte versetzt

Alte Dämonen Luxemburgs Premier Juncker hat die Europäer vor der Annahme gewarnt, dass es auf ihrem Kontinent keine Kriege mehr geben könne. Ihn erinnere derzeit vieles an 1913
Ausgabe 11/2013

Ausgerechnet der Gesinnungseuropäer Jean-Claude Juncker raubt der EU den Glorienschein inniger Friedensliebe und Harmoniesucht. Luxemburgs Premier hat dem europäischen Kontinent im Spiegel-Interview „auffällige Parallelen zum Jahr 1913“ attestiert und vor dem irrtümlichen Glauben gewarnt, es könne in Europa nie mehr Kriege geben. Eben noch wird die EU vom Nobelpreiskomitee als Friedensgigant dekoriert, da schwindet die ganze Glückseligkeit, und man wird ins Beinhaus der Geschichte gebeten. 1913? Wer denkt da nicht an 1914? An die "Erziehung vor Verdun" (Arnold Zweig), an die Marne- und Materialschlachten, an das Unvermögen, Frieden zu schließen, weil Kriegspatriarchen das eigene Prestige wichtiger war als das Leben von Millionen Menschen? Nur, wann war das je anders? Und wie viele nach Paul von Hindenburg benannte Straßen, Plätze und Dämme gibt es heute noch in Deutschland, speziell im Westteil Berlins?

Sollten Europa die tausend Sprossen des Zusammenfindens, nach denen es seit 1945 und 1990 gegriffen hat, wieder aus den Händen gleiten, so dass ein Fall ins Bodenlose unaufhaltsam ist? Jean-Claude Juncker wird wissen, was er sagt. Er kann zu seiner Entlastung vorbringen, dass ihm das Management der Eurokrise, die er jahrelang als Chef der Euro-Gruppe zu betreiben hatte, schwer in den Knochen steckt. Vielleicht mehr, als ihm lieb ist. Der Umgang mit dem Finanz- und Schuldendilemma hat aus dem Staatenbund namens Eurozone eine Staatenhierarchie werden lassen. Ein Vorgang, in dem sich die Markt- wie Urkräfte entfalten durften.

So mancher Stachel

Wenn Europa so offenkundig wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg wieder in Mächtige und Mündel zerfällt, in Zahlungsfähige und Bankrottbrüder, in Kreditwürdige und Kostgänger, in Herren und Knechte – wie sollten da Zwietracht, Antipathie und Hass ausbleiben? Die Währungsunion sitzt im eigenen Eisen gefangen. Ein mutmaßlich epochales Integrationsprojekt schrumpft zur profanen Neidgesellschaft. Euro-Staaten können im Krisenfall eine eigene Währung nicht mehr abwerten, weil ihnen dergleichen fehlt. Also werten sie ihre Bürgern ab, damit diese billiger werden und in der europäischen Marktgesellschaft wieder einen Marktwert haben. Oder anders formuliert, "vermarktbar" sind. Das ist es nur folgerichtig, wenn soziale Demütigung so manchen Stachel ins europäische Miteinander treibt. Schließlich weiß man im Athen, Lissabon, Madrid oder Rom, wer dafür zuständig ist. Auf Betreiben Deutschlands und seiner Kanzlerin wurden Verträge über Schuldengrenzen und Hilfsfonds geschlossen, die kollektiven Beistand für angeschlagene Partner an ökonomische Selbstkasteiung binden.

Er habe es bei den Wahlkämpfen in Griechenland und Italien gesehen, sagt Juncker. „Plötzlich kamen Ressentiments hoch, von denen man dachte, sie seien definitiv abgelegt.“ Nicht das Gespenst, sondern der Geist der Renationalisierung geht um. Und nicht nur der.

Das unterschwellige Credo der Regierung Merkel: Warum sollen wir für Wohlleben und Müßiggang der anderen aufkommen, hat etwas von einem Schlachtruf, wie ihn gewöhnlich Kulturchauvinisten von sich geben. Sollten Besonnenheit und Augenmaß Tugenden sein, mit denen europäische Führungsmächte überzeugen, hat Deutschland nicht eben viel zu bieten. Es war Jean-Claude Juncker, der sich in der Vergangenheit schon oft daran gestört und vor zentrifugalen Kräften gewarnt hat, die eines Tages außer Kontrolle geraten. Wozu das führen kann, hat er jetzt präzisiert.

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