Irakisierung des Krieges?

Kommentar Irakisierung der Besatzung

Als sich die amerikanische Infanterie Anfang der siebziger Jahre in ihren südvietnamesischen Stützpunkten zu verschanzen begann, wurde diese vorletzte Phase des Indochina-Krieges "Vietnamisierung der Särge" genannt. Die Armee des Präsidenten-Generals Nguyen van Thieu stand plötzlich allein den nordvietnamesischen Einheiten und der Nationalen Befreiungsfront (FLN) gegenüber. Wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht vernichtend geschlagen wurde, war das der amerikanischen Luftwaffe zu danken, die eingriff, sobald die Lage am Boden prekär schien. Inwieweit gilt dieses Raster für die ständigen Bombardierungen Falludschas?

Gewiss wäre es zynisch, mit Blick auf den Irak in diesen Tagen von einer "Irakisierung der Särge" zu reden. In denen liegen fast nur Iraker, seit die amerikanische Aggression im März 2003 begann. Und doch sind seit Antritt der Übergangsregierung des Premiers Allawi Parallelen zu Vietnam vor 30 Jahren nicht zu übersehen. Die Amerikaner beginnen offenkundig mit einem Rückzug aus den vordersten Linien, um sie an neu formierte irakische Sicherheitskräfte abzutreten. Dass auf die Irakisierung der Besatzungsmacht seit dem 30. Juni eine schrittweise Irakisierung des inneren Krieges erfolgt, entbehrt nicht der Logik, beruht jedoch auf einer - vermutlich entscheidenden - Fehlkalkulation: Der Widerstand, besonders dessen islamistischer Kern - das zeigt der Frontalangriff auf die irakische Gesellschaft in diesen Tagen - lässt sich darauf nicht ein. Warum sollte er auch?

Mit der Besetzung eines großen und bedeutenden arabischen Landes haben die USA und ihre Alliierten einem Gegner, der unbeirrbar daran glaubt, einen Heiligen Krieg führen zu müssen, eine Arena geboten, die es so nie zuvor gab. Gekämpft wird seit mehr als einem Jahr nicht irgendwo in Mittelasien am Hindukusch, sondern am Rande der westlichen Zivilisation und Kulturgemeinschaft. Die Protagonisten des "Allah ist mit den Standhaften" begreifen den verdeckten Guerilla-Krieg längst als offene Feldschlacht mit dem Westen, dem es nicht erlaubt werden soll, hinter "irakischen Kollaborateuren" in Deckung zu gehen. Folglich wird vor aller Augen bewiesen, dass Allawi Co nicht für die versprochene Stabilität sorgen, sondern am Zügel der Amerikaner genau das Gegenteil bewirken.

Die irakische Guerilla handelt insofern mit der ultimativen Rationalität eines Gegners, der stets nach den geeigneten Waffen sucht, um überhaupt Gegner sein zu können. Es gilt das Credo, die Barbarei des anderen setzt der eigenen keine Grenzen. Dank seiner Eroberungslust im Irak hat es das Imperium geschafft, mit dem passenden Mob versorgt zu sein. Dabei lassen Mazar-e-Sharif, Guantánamo oder Abu Ghraib nicht übersehen, wie sehr dieser Mob seinem Feind auf den Leib geschneidert ist. So sehr, dass er sich sogar dazu versteigt, ein ebenbürtiger Gegner sein zu wollen.


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