Schwer zustellbar

EU-Hilfspaket Braucht es wirklich 750 Milliarden Euro? Man könnte doch auch umverteilen
Ausgabe 26/2020
Wasser, das jetzt getrunken wird, stillt nicht den Durst, der kommen wird
Wasser, das jetzt getrunken wird, stillt nicht den Durst, der kommen wird

Foto: Leon Neal/Getty Images

Ist der Corona-Kollaps für Europa wenigstens dazu gut, dass die Zeit drängt? Wird bereits der EU-Gipfel Mitte Juli zum Konsens über den 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds führen? Ursprünglich sollte Anfang September das erste Geld fließen, nun spätestens zum Jahresende. Jede EU-Regierung will, dass bald gezahlt wird. Sich den gebührenden Anteil zu sichern, verschafft politische Legitimation, die ökonomische Rationalität kann warten. Darf sie?

Vorerst gilt als entscheidend, dass eine 27-Staaten-Assoziation ihr ökonomisches Gewicht in die Waagschale wirft, um an den Finanzmärkten zu bekommen, was sie will und braucht. Wen schert da noch, dass ein im europäischen Recht verankertes Verschuldungsverbot der EU erstmals in deren Geschichte nicht heimlich kastriert, sondern öffentlich kassiert wird? Eine Zäsur, die allein von ihren Voraussetzungen her Beachtung verdient. Zunächst braucht eine zur Kreditnehmerin und Megaschuldnerin umgewidmete EU das einstimmige Votum des Europäischen Rates, schreibt Artikel 352 des EU-Vertrages vor. Zugleich muss das Europaparlament zustimmen. Dass sich hier wie dort keinerlei Widerstand regt, darf bezweifelt werden. Allein die vier Višegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei schienen bei ihrem Treffen Mitte Juni im südmährischen Lednice wenig entzückt darüber, dass die Hilfsakte der EU unter dem Vorbehalt rechtsstaatlichen Verhaltens stehen. Bleibt es dabei, könnten Warschau oder Budapest von ihren Vetorechten Gebrauch machen. Zudem ist denkbar, dass wegen der Verschuldungsfrage der Europäische Gerichtshof bemüht wird und einen Entschluss fasst, der verhindert, aufhält oder einschränkt, was an Corona-Hilfen in Aussicht steht. Sind diese Unwägbarkeiten schon von einiger Relevanz, gilt das erst recht für die hohen Schulden, die sich die EU für Jahrzehnte auflädt.

Wasser, das jetzt getrunken wird, stillt schließlich nicht den Durst, der kommen wird – auch wenn erste Verbindlichkeiten frühestens 2028 abgelöst werden sollen. Möglich wäre dies über höhere nationale Beiträge zum EU-Haushalt. Nur wollen, vor allem können das alle Mitgliedsstaaten leisten? Oder verschafft sich die EU-Kommission eigene Einnahmen, indem sie Digital-, Luftverkehrs- sowie Kohlendioxidsteuern erhebt, dazu den Emissionshandel abschöpft? Eine Einigung dazu müssen wiederum alle tragen. Die Kommission kann nicht allein dekretieren, woran sie verdienen will.

Wenn auch das – wie so vieles – ungeklärt ist, muss die Frage erlaubt sein: Wird zu viel Geld verbraucht? Werden die 750 Milliarden Euro wirklich benötigt? Sollten Vergabekriterien wie Produktionsrückgang, Arbeitslosigkeit, Haushaltsdefizit, Staatsschulden und Branchenkrisen überhaupt bzw. allein ausschlaggebend sein? Müsste nicht vielmehr danach gefragt werden, was in den EU-Staaten selbst durch soziale Umverteilung, Vermögensabgaben und durch eine der Pandemie gemäße Steuerpolitik passiert? Warum nicht einen Gerechtigkeitskoeffizienten ermitteln, der mitentscheidet, worauf eine Regierung Macron aus dem EU-Fonds Anspruch hat? Und müssen ökologische Straftatbestände wie Massentourismus, Automobilbau und Luftfahrt vom erzwungenen Müßiggang durch EU-Gelder erlöst werden, wie das Ursula von der Leyens Tableau „Next Generation EU“ vorsieht? Da drohen allein wegen des Klimawandels Kosten, die vielleicht nie mehr beglichen werden können.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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