Jede Menge Zündschnüre

Armenien/Aserbaidschan Welche Aktien hat Erdoğan am Krieg im Südkaukasus?
Ausgabe 41/2020
Ein Blindgänger steckt in einer Straße in Stepanakert, der Hauptstadt der Republik Arzach. Arzach ist ein von Aserbaidschan beanspruchter De-facto-Staat im Kaukasus
Ein Blindgänger steckt in einer Straße in Stepanakert, der Hauptstadt der Republik Arzach. Arzach ist ein von Aserbaidschan beanspruchter De-facto-Staat im Kaukasus

Foto: Aris Messinis/AFP/Getty Images

Bedarf es eines weiteren Beweises, was eine EU-Aufnahme der Türkei an Risiken heraufbeschwört, dann wird er gerade erbracht. Die Regierung in Ankara verfährt beim Krieg im Südkaukasus nach der Devise, wer sich als Regionalmacht begreift, lässt Regionalkonflikte nicht aus (solche zumal, die einem förmlich ins Haus fallen). Wer als muslimisches Land auf Ehre hält, steht dem muslimischem Nachbarn Aserbaidschan zur Seite. Wer vom Selbstverständnis her eine Großmacht ist, dem geht es wie dem Unterlauf eines Flusses – es strömt ihm alles zu, nun sogar ein Krieg.

Wäre die Türkei ihr Mitglied, könnte die EU jetzt wählen: Entweder das Ticket als Konfliktpartei lösen oder energisch Abstand halten, was in Ankara als Abkehr, wenn nicht Verrat gedeutet und geahndet würde. Durch Erpressung in der Flüchtlingsfrage etwa. Präsident Erdoğan ist in diesem Krieg nicht solidarisch engagiert, sondern militärisch exponiert. Er will Aserbaidschan gegen Armenien „mit allen Mitteln zur Seite stehen“. Diese Aussage gilt mindestens für Militärberater, schließt den Transfer von Waffen, vorrangig Drohnen, ein und könnte syrische Kombattanten meinen, die der aserbaidschanischen Armee beistehen und im türkisch kontrollierten Teil der Nordprovinz Idlib in Syrien rekrutiert worden sind. Dass Präsident Alijew in Baku nimmt, was der Waffenbruder in Ankara gibt, verwundert nicht. Und verwundert doch, wird die konfessionelle Seite gestreift. Die islamische Türkei ist mehrheitlich sunnitisch – Aserbaidschaner, sofern Muslime, sind Schiiten.

Für die türkische Regierung scheint das kein Hindernis zu sein, um die Gunst der Stunde und einer Weltordnung auszukosten, der es an Berechenbarkeit fehlt, um eine zu sein. Dieser Umstand fördert die Tendenz, ehemals abgegrenzte durch sich überlagernde Einflusssphären zu ersetzen. Je unangefochtener Autokratien wie die Türkei dabei agieren können, desto größer der Anreiz, eigenen Interessen zu genügen. Sei es in Syrien, in Libyen, beim Ressourcenstreit mit Zypern und Griechenland im Mittelmeer oder nun im Kaukasus, wo neben der religiösen auch die ethnische Karte sticht. Ankara fühlt sich mit Baku nicht verbunden, sondern „verwandt“. Zwei Staaten, eine Nation, so das Passwort, um sich machtbewusst auf der Seite einer Kriegspartei einzuloggen und Moskau herauszufordern. Denn was bewirkt die Türkei in Aserbaidschan? Sie schlägt eine Bresche in das postsowjetische Umfeld Russlands, welches als „Nahes Ausland“ sensiblen Sicherheitsbedürfnissen unterliegt. Es sollte – so die geopolitische Doktrin seit dem Abgang der Sowjetunion Ende 1991 – nicht zur Risikozone werden, weil dort fremde Mächte eventuell auf Dauer Wurzeln schlagen.

Und der türkische Pflock auf dem armenisch-aserbaidschanischen Gefechtsfeld könnte durchaus als politisches Faustpfand gedacht sein. Moskau unter Druck setzen, um bei anderen Regionalkonflikten, in die man konkurrierend involviert ist, Konzessionen anzubahnen. In Nordsyrien, wenn sich das Schicksal von Idlib entscheidet. Oder in Libyen, wenn dort Erdoğans Favorit in Tripolis, der Schattenpremier as-Sarradsch, demnächst abdankt. Offenkundig haben einander durchdringende Interessensphären ebensolche Regionalkonflikte zur Folge. Auf unvermeidliche Interdependenzen zu erkennen, wäre verharmlosend. Von Zündschnüren zu sprechen, die von einer zur anderen und zur nächsten geballten Ladung führen, trifft es wohl eher.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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