Bedarf es eines weiteren Beweises, was eine EU-Aufnahme der Türkei an Risiken heraufbeschwört, dann wird er gerade erbracht. Die Regierung in Ankara verfährt beim Krieg im Südkaukasus nach der Devise, wer sich als Regionalmacht begreift, lässt Regionalkonflikte nicht aus (solche zumal, die einem förmlich ins Haus fallen). Wer als muslimisches Land auf Ehre hält, steht dem muslimischem Nachbarn Aserbaidschan zur Seite. Wer vom Selbstverständnis her eine Großmacht ist, dem geht es wie dem Unterlauf eines Flusses – es strömt ihm alles zu, nun sogar ein Krieg.
Wäre die Türkei ihr Mitglied, könnte die EU jetzt wählen: Entweder das Ticket als Konfliktpartei lösen oder energisch Abstand halten, was in Ankara als Abkehr, wenn nicht Verrat gedeutet und geahndet würde. Durch Erpressung in der Flüchtlingsfrage etwa. Präsident Erdoğan ist in diesem Krieg nicht solidarisch engagiert, sondern militärisch exponiert. Er will Aserbaidschan gegen Armenien „mit allen Mitteln zur Seite stehen“. Diese Aussage gilt mindestens für Militärberater, schließt den Transfer von Waffen, vorrangig Drohnen, ein und könnte syrische Kombattanten meinen, die der aserbaidschanischen Armee beistehen und im türkisch kontrollierten Teil der Nordprovinz Idlib in Syrien rekrutiert worden sind. Dass Präsident Alijew in Baku nimmt, was der Waffenbruder in Ankara gibt, verwundert nicht. Und verwundert doch, wird die konfessionelle Seite gestreift. Die islamische Türkei ist mehrheitlich sunnitisch – Aserbaidschaner, sofern Muslime, sind Schiiten.
Für die türkische Regierung scheint das kein Hindernis zu sein, um die Gunst der Stunde und einer Weltordnung auszukosten, der es an Berechenbarkeit fehlt, um eine zu sein. Dieser Umstand fördert die Tendenz, ehemals abgegrenzte durch sich überlagernde Einflusssphären zu ersetzen. Je unangefochtener Autokratien wie die Türkei dabei agieren können, desto größer der Anreiz, eigenen Interessen zu genügen. Sei es in Syrien, in Libyen, beim Ressourcenstreit mit Zypern und Griechenland im Mittelmeer oder nun im Kaukasus, wo neben der religiösen auch die ethnische Karte sticht. Ankara fühlt sich mit Baku nicht verbunden, sondern „verwandt“. Zwei Staaten, eine Nation, so das Passwort, um sich machtbewusst auf der Seite einer Kriegspartei einzuloggen und Moskau herauszufordern. Denn was bewirkt die Türkei in Aserbaidschan? Sie schlägt eine Bresche in das postsowjetische Umfeld Russlands, welches als „Nahes Ausland“ sensiblen Sicherheitsbedürfnissen unterliegt. Es sollte – so die geopolitische Doktrin seit dem Abgang der Sowjetunion Ende 1991 – nicht zur Risikozone werden, weil dort fremde Mächte eventuell auf Dauer Wurzeln schlagen.
Und der türkische Pflock auf dem armenisch-aserbaidschanischen Gefechtsfeld könnte durchaus als politisches Faustpfand gedacht sein. Moskau unter Druck setzen, um bei anderen Regionalkonflikten, in die man konkurrierend involviert ist, Konzessionen anzubahnen. In Nordsyrien, wenn sich das Schicksal von Idlib entscheidet. Oder in Libyen, wenn dort Erdoğans Favorit in Tripolis, der Schattenpremier as-Sarradsch, demnächst abdankt. Offenkundig haben einander durchdringende Interessensphären ebensolche Regionalkonflikte zur Folge. Auf unvermeidliche Interdependenzen zu erkennen, wäre verharmlosend. Von Zündschnüren zu sprechen, die von einer zur anderen und zur nächsten geballten Ladung führen, trifft es wohl eher.
Kommentare 9
In Russland gibt es durchaus die Vermutung, dass die Türkei in Syrien über Bergkarabach nicht nur Zugeständnisse von Russland heraus holen will. Sondern, dass die russisch-türkische Verständigung dort komplett enden und offene Kämpfe um Idlib und andere Regionen ausbrechen könnten. Die dortigen Oppositionstruppen wurden laut Kommmersant schon in Alarmbereitschaft versetzt. örtliche türkisch-russische Absprachen funktionieren nich mehr. Russland würde natürlich Assads Truppen vorschicken - was Ankara kann, kann Moskau schon lange. Leidtragende würden - genau wie im Kaukasus - die Zivilisten sein, die sich im regionalen Kampffeld der Mächte mit Gefahr für Leib und Leben aufhalten.
Also eins muss man den neuen osmanischer Reich ( Nato Land Türkei ) und seinen Sultan lassen, er führt ganz schön die EU am Nasenring durch die Arena! Warum … weil er es als EU Grenzwächter auch kann! Aus diesem Grund schweigt Brüssel wie zu oft - Interessen gesteuert!
So ist das, ein letztes Bollwerk gegen die Massen aus dem Süden.
;-)
Der von dem in der Schweiz trainierten Analysten für militärische Konflikte, The Saker, verfaßte Artikel "Can and Should Russia Stop the War in the Caucasus?" macht auch noch einmal deutlich, welch gefährliches Spiel Erdogan betreibt. Ausgehend von den ethnischen, politischen und religiösen Wurzeln des Konflikts zeigt der Autor aber auch Lösungsmöglichkeiten jenseits einer Konfrontation von Großmächten oder Bündnissen (NATO <–> CSTO). Die Anerkennung von Nagornyj Karabach als autonomes Gebiet Aserbaidschans unter russischem Schutz wäre eine, wobei die Türkei an den Grenzen einbezogen werden könnte. Dies würde aber die Bedeutungslosigkeit der USA in dieser Region zementieren, weshalb es auf deren Reaktion ankommt. Bisher sieht es so aus, dass weder Russland noch die USA ein Interesse am Sieg einer der beiden Seiten haben, was sicher auch zu dem jetzt verkündeten Waffenstillstand geführt hat, der auf russische Initiative in Moskau zustande gekommen ist.
>> Die Anerkennung von Nagornyj Karabach als autonomes Gebiet Aserbaidschans unter russischem Schutz wäre eine,…<<
Die Stabilität von autonomen Gebieten in Regionen mit geostrategischen Interessen ist mit einem Wackelpudding vergleichbar, s. die Vielzahl von Konflikten bis Kriegen in den vergangenen Jahrzehnten in diesen Regionen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die RF sich so weit aus dem Fenster lehnen wird, eine Sicherheitsgarantie für NK anzubieten. So wie die westlichen ´Kollegen´ aufgestellt sind, zumal seit geraumer Zeit keine Gelegenheit zur Provokation ausgelassen wird, wäre damit ein neuer Konfliktpunkt mit der RF geschaffen. Den Gefallen wird ihnen Putin sicherlich nicht tun. Es wäre auch kein Gefallen für die Armenier vor Ort, die i.d.F. einen hohen Blutzoll beitragen müssten.
Völkerrecht hin oder her, es war weder in Zeiten der SU noch nach deren Zerfall historisch & kulturell legitim, NK in den Staatsgrenzen von Azerbaidschan zu belassen. Eine einigermaßen zufriedenstellende Lösung für alle Seiten (d.h. Armenier & Azeris) ohne Agreement mit USA bzw. NATO wird es nicht geben, wobei ich insbesondere bei letzterer nicht erkennen kann, dass diese in ihrem Interesse liegt. Der aktuelle Konflikt scheint auch aus dieser Küche vorbereitet worden zu sein. Man beachte parallel die Kumulation der aktuellen Vorfälle, die direkt oder indirekt eine Anspannung mit der RF bedeuten:
Weißrussland | Nawalny | Nagornji Karabach | Kirgistan.
Vielleicht wird der Sultan am Nasenring geführt & ihm gefällts, da er nicht über den Tellerrand schaut.
Hauptsache, der Sultan führt nicht die NATO am Nasenring in den Bündnisfall.
"Die Stabilität von autonomen Gebieten in Regionen mit geostrategischen Interessen ist mit einem Wackelpudding vergleichbar,…"
Das stimmt natürlich, aber mir scheint, dass es sich hier nicht um eine solche Region handelt. Wir sehen wahrscheinlich die andere Seite einer multipolaren Welt aufscheinen, in der nicht mehr ein Hegemon darüber bestimmt, wo Konflikte (in seinem Interesse) aufbrechen. Dies ist wohl ein Konflikt, in dem der aserbaidschanische Herrscher zu Hause punkten will, der Herrscher einer Möchtegern-Regionalmacht (Türkei) sein Süppchen kocht und beide gemeinsam dabei eher unbeabsichtigt, weil sie nicht über genügend strategische Weitsicht verfügen, die Großmächte an den Rand eines größeren Krieges drängen. Zur Lösung solcher Konflikte werden Institionen gebraucht, die durch die Völkerfamilie über genügend Autorität verfügen, die Streithähne in die Schranken zu verweisen. Ob das die UN werden können ist die große Frage. Andere sehe ich noch nicht einmal im Ansatz.
Im aktuellen Fall kocht leider auch die armenische Regierung ihr Süppchen _ gegen die RF. Ohne Rückhalt durch wen auch immer in der NATO wäre die Türkei nicht so weit vorgeprescht.
Institutionen wie die UN sind nur dann effektic, wenn das Personal nicht ideologisch verblendet, korrumpierbar & |oder erpressbar ist. Da es leider Kräfte gibt, die in der Lage sind, Einfluß & Druck auszuüben, bleibt die UN als auch ihre Unterorganisationen deren Spielball.