Plötzlich scheint es ein Überbietungswettbewerb zu sein. Wer schafft den schnellsten Ausstieg aus Afghanistan? Nachdem jahrelang allein die Überlegung, die Militärpräsenz der USA und ihrer NATO-Alliierten zu beenden, als Sakrileg, wenn nicht Verrat an der kämpfenden Truppe geschmäht wurde, gerät der Abmarsch nunmehr zum würdelosen Sprint.
Wer auf Flucht erkennt, liegt auch nicht daneben. Die Bundeswehr jedenfalls ist schneller wieder zuhause als gedacht. Man kann den Soldaten und Offizieren nichts mehr wünschen als diese sichere Rückkehr. Wahrscheinlich wird die von Joe Biden im Wunsch nach Symbolik gesetzte Deadline 11. September 2021 nicht ausgereizt. Worauf sollen die US-Verbände samt der 17.000 privaten US-Militärdienstleister noch warten? Zur Selbstverständlichkeit einer solchen Demission gehört dann eben auch, sich in keine neuerlichen Kampfhandlungen mit den Aufständischen begeben zu wollen.
Aufarbeiten und aufklären
Daraus folgt, die allein dank westlicher Beihilfe in Afghanistan etablierte Staatsordnung, die regionalen Administrationen sowie die Nationalarmee ANA und Polizei bleiben auf sich allein gestellt und stehen mit dem Rücken zur Wand. Sie werden von den bisherigen Stationierungsstaaten in einer Weise geopfert, die problematischer – um nicht zu sagen: rücksichtsloser – kaum sein kann. Nach Jahrzehnten der Fremdbestimmung bleibt Afghanistan unversehens sich selbst überlassen. Eine künftige Regierung wird eher ausgekämpft als ausgehandelt.
Sicher war es von vornherein aussichtslos, den Taliban große Zugeständnisse für eine Machtteilung und die fortan geltenden sozialen wie religiösen Normen abzuringen. Aber einen geordneten Übergang wenigstens zu versuchen – um einen Bürgerkrieg und viele Tote zu verhindern, war es das nicht wert, länger zu verhandeln? Und hätten nicht die US-Verbände aus Anstand und Verantwortung warten müssen, bis eine interne afghanische Verständigung gelingt oder definitiv gescheitert ist? Sollte es in Deutschland tatsächlich eine Afghanistan-Enquetekommission geben – was eher nicht zu erwarten ist, wer weiß schon, wie die Interessen nach der Bundestagswahl liegen – sollte sie mit diesem schmachvollen Ende beginnen.
Allerdings zählt es mittlerweile zu den unverkennbaren Defiziten der politischen Kultur des Westens, dass mit atemberaubender Geschwindigkeit verdrängt wird, was zum analytisch-kritischen Hinterfragen eigenen Verhaltens führt. Man zehrt viel lieber vom Augenblick und will nicht damit behelligt werden, was dem voranging. Nur hat der längste, umstrittenste und opferreichste Auslandseinsatz der Bundeswehr mehr verdient als den Hang zur Amnesie. Dies gilt erst recht, wenn eine schonungslose Aufarbeitung zum Nachweis taugen würde, über politische Qualitäten zu verfügen, die es wert waren, in Afghanistan implementiert zu werden. Unabhängig davon, ob die Absicht, dies zu tun nun realistisch war oder nicht.
Bekenntnis zum Islam
Feststeht, der vermeintliche Demokratieexport zum Hindukusch stand von Anfang für eine politische Hybris, die an jüngster Geschichte ausblendete, was nicht zur Absicht passte. Bereits zwischen 1978 und 1989 hatte es bis zum Abzug der sowjetischen Truppen den Versuch der teilweise marxistischen Demokratischen Volkspartei gegeben, das Land zu säkularisieren und dadurch auf einen emanzipatorischen, progressiven Weg zu bringen. Spätestens jedoch, als Mohammed Nadschibullah, der letzte Staatschef dieser Partei, Ende der 1980er Jahre durch ein Bekenntnis zum Islam seine Macht durch den religiösen Bezug zu legitimieren suchte, wurde klar, dass Afghanistan, seine Ethnien und Glaubensgemeinschaften nicht gegen ihre Traditionen und eigenständigen Kulturen zu regieren waren.
Insofern zeigt Afghanistan vor allem eines, wieder einmal ist ein von außen erzwungener Regime Change gründlich gescheitert. Den Preis dafür zahlen Millionen von Menschen, die nun einer ungewissen, wenig friedlichen, womöglich zermürbenden Zukunft entgegensehen. Auch wenn die Taliban von 2021 nicht mehr die von 1996 sein sollen, als sie das erste Mal Kabul erobert haben.
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