Juni 2013 – Juni 2015

Afghanistan Der Angriff von Aufständischen auf den Flughafen von Kabul lässt ahnen, wie sich die Sicherheitslage des Landes nach dem ISAf-Ausstieg Ende 2014 verändern kann
Afghanische Polizisten nach den Kampfhandlungen am Kabul-Airport
Afghanische Polizisten nach den Kampfhandlungen am Kabul-Airport

Foto: Massoud Hossaini /AFP/ Getty Images

Die Frühjahrsoffensive der Taliban und anderer Aufständischer war vorhersehbar. Vermutlich wird sie in diesem Jahr mit besonderer Vehemenz betrieben, um einem politischen Kalkül zu dienen, über das nicht groß gerätselt werden muss. Die Regierung in Kabul soll mindestens erahnen, was nach dem Abzug des ISAF-Hauptkontingents Ende 2014 passieren kann. Und nach dem Willen vieler Taliban-Führer wohl auch soll. Die Devise lautet, nicht nur in einzelnen Provinzen Stärke zeigen, sondern unter den Augen der Karzai-Administration wie der ISAF- bzw. NATO-Stäbe in Kabul. Anfang Mai traf es in der afghanischen Hauptstadt ein UN-Gebäude, anschließend Ministerien. Zu Beginn dieser Woche nun wird der militärische Teil des Flughafens von Kabul attackiert. Ein gut gesichertes Terrain, sollte man meinen, das so leicht nicht zu betreten, geschweige denn in Teilen kurzzeitig einzunehmen ist.

Nichts gibt es mehr als Waffen

Gesetzt den Fall, diese Geschehnisse hätten sich nicht Anfang Juni 2013 zugetragen, sondern zwei Jahre später, im Juni 2015. Wenn die Taliban dann so energisch die strategische Initiative ergreifen, wie das im Moment der Fall ist, können Teile Afghanistans dem permanenten Verteidigungszustand anheimfallen. Mit der ausgelösten Destabilisierung wären auch der Regierbarkeit des Landes Grenzen gesetzt. Es könnte in Entitäten zerfallen – je nach dem, wie hoch oder niedrig der regionale Sicherheitsstandard jeweils ist.

Damit ließe sich kein Staat machen, sondern nur verlieren. Müssen die noch mit eigenen Truppen am Hindukusch stehenden NATO-Staaten auf diese Szenarien reagieren die mehr sind als Eventualitäten oder Visionen?

Nichts gibt es in Afghanistan mehr als Waffen: leichte und schwere, gepanzerte, stationäre, rollende und fliegende …

Was geschieht damit, wenn die Nationalarmee (ANA) die ihr ab 2014 übertragene Sicherheitsverantwortung als zu schwer empfindet und einfach abstreift? Kommandeure könnten sich ihrer Clan-Loyalitäten erinnern, alten Warlords oder neuen Führern anschließen. Ähnliches passierte nach dem Abzug der Sowjetarmee im Februar 1989. Man schielte nach dem mutmaßlich Stärkeren oder dem, der stärker werden könnte, sofern man ihn an der eigenen Stärke teilhaben ließ. Überleben, Sein oder Nichtsein, auf den sich anbahnenden Rückfall in einen Bürgerkrieg eingestellt sein, lautete die Devise. Zwischen 1989 und 1992 gab es zwar noch eine Zentralregierung in Kabul (unter dem Präsidenten Mohammed Nadschibullāh), aber sie besaß weder Zentralmacht noch -autorität.

Wenn sich alles erledigt hat

Kein Wunder, dass sich der Westen längst auf eine zeitlich schwer zu befristende Phase des Containments von Aufstand und Aufruhr einstellt. Bekanntlich hat auch der deutsche Verteidigungsminister bereits angedeutet, dass es einen Verbleib der Bundeswehr über den 31. Dezember 2014 hinaus geben werde. Das Ausmaß des Aufgebots nach dem Abzug dürfen so beschaffen sein, dass sich der Begriff "Restkontingent" verbietet.

Wer einen immer schon fragilen Staat wie Afghanistan mehr als ein Jahrzehnt lang wie ein Protektorat behandelt, kann nicht erwarten, dass daraus unversehens wieder ein Staat wird, wenn sich die Besatzungsmacht zurückzieht. Hier zeigt sich die ganze Verlogenheit eines Menschenrechts-Bellizismus, der sich selbst mandatiert und für unverzichtbar hält. Er hat sich spätestens dann erledigt, wenn seine Folgen für die postheroischen Gesellschaften des Westens zu teuer, zu opferreich, zu langwierig werden. Oder anders formuliert – wenn alle Trümpfe ausgespielt sind: Erstens, die angeblich moralische Pflicht zum Eingreifen. Zweitens, die militärische Übermacht, die es dieser Pflicht erleichtert, als solche empfunden zu werden. Drittens, das missionarische Herum-Eifern, das anderen politischen Kulturen die eigene zur Nachahmung empfiehlt.

Wenn sich das alles erledigt hat, bleibt Afghanistan übrig. Immer noch und schon wieder Afghanistan, dessen Zustand im Juni 2013 nicht unbedingt Friedenshoffnungen nährt und im 2015 noch schlechter sein könnte. Eigentlich sind die Urheber von Intervention, Besatzung und Protektorat dazu verurteilt, dem Land eine Perspektive zu geben, die tatsächlich eine ist. Einfach so gehen, dürfen sie nicht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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