Das für Mitte der Woche geplante, inzwischen abgesagte Treffen von Russland Außenminister Lawrow mit dem türkischen Premier Davutoğlu sollte vorrangig einem Thema gewidmet sein – dem Bau von "Turkish Stream", einer gemeinsam betriebenen Pipeline, die Österreich, Ungarn sowie fast alle Balkan-Staaten möglichst bald mit russischen Erdgas versorgen soll. Diese Trasse ist seit zwei Jahren im Gespräch. Sie würde Russland wieder enger mit Europa verbinden. Es ließe sich ein stör-, weil krisenanfälliger Transit über die Ukraine vermeiden. Das Projekt wäre ein Argument gegen andauernde EU-Sanktionen.
Das Interesse der russischen Führung an einem gedeihlichen Verhältnis mit Ankara war allein schon deshalb groß. Da verboten sich unnötige Störungen. Auch wenn es in der Syrien-Frage immer schon divergierende, wenn nicht gegensätzliche Auffassungen gab, war das bisher kein Grund für Zerwürfnisse oder gar eine Konfrontation, wie es sich im Augenblick – nach dem Abschuss des russischen Kampfjets – andeutet.
Gunst der Stunde
Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die türkische oder russische Version der Wahrheit näher kommt oder entspricht. Tatsache ist, trotz aller Differenzen sollten beide Staaten in und wegen Syrien keine Gegner sein. Auch wenn eine multilaterale Anti-IS-Allianz formal nicht besteht, so gehört die Türkei allein schon wegen ihrer NATO-Mitgliedschaft zum Anti-IS-Lager. Und Russlands Präsident Putin hat einen solchen Bund mehrfach selbst vorgeschlagen und darf sich gerade bestätigt sehen, wenn Frankreichs dauerreisender Staatschef nun für Gleiches wirbt.
Dennoch gilt – die Türkei, besonders Präsident Tayyip Erdogan, folgt im Syrien-Konflikt seit jeher einer eigenen Agenda. Als dort 2011 der Konflikt zwischen sunnitischen Aufständischen und alawitischen Verteidigern des syrischen Staates in einen Bürgerkrieg mündet, wird Präsident Assad über Nacht vom umworbenen Freund Erdogans zum verhassten Feind Erdogans. Man will in Ankara die geostrategische Gunst der Stunde auskosten und deutet sie wie folgt: Falls das Anti-Assad-Lager triumphiert, wird ein sunnitisch regiertes Syrien eine sunnitische Schutzmacht brauchen, so das Kalkül. Wer sollte sich dafür besser eignen als eine Türkei, die so lange schon von einer neo-osmanischen Renaissance und regionalmächtigem Aufstieg zu träumen weiß?
Freilich stellen sich Erdogans syrische Ambitionen bald als syrisches Abenteuer heraus. Statt des erhofften schnellen Sieges nimmt der Krieg kein Ende. Tayyip Erdogan hat sich heftiger verkalkuliert, als es für einen Autokraten mit permanentem Legitimationsbedarf gut sein kann. Und nicht nur das, auch der Beistand für dschihadistische Freischärler, die unbehelligt durch die Türkei reisen dürfen, sich dort ausbilden und ausrüsten lassen, um dann womöglich beim IS anzuheuern, erweist sich als heikles Erbe und versetzt in Erklärungsnot. Warum erst die islamistischen Frondeure unterstützen und dann in eine anti-islamistische Phalanx mit den USA einscheren, die nun sogar globalisiert werden soll?
Als Entlastung willkommen
Wirkt ein solcher Schwenk nicht wie der Offenbarungseid für das Scheitern türkischer Syrien-Politik? Weder konnte eine kurdische Autonomie in Nordsyrien verhindert, noch Damaskus erobert noch türkischer Regionalmacht osmanischer Glanz verliehen werden. Ende der Vorgeschichte.
Sie birgt soviel explosive Logik, dass ein Luftzwischenfall wie der Abschuss eines russischen Kampfjets schon für Entlastung sorgen kann. Als der grelle Feuerball kurz über dem Gebirge bei Latakia steht, kann Tayyip Erdogan bereits sicher sein, dass ihn die NATO aus Bündnisräson von jeder Schuld freisprechen wird. Mancher Partner wird höchstens hinter vorgehaltener Hand fragen, welches Interesse Russland an Risikoflügen im syrisch-türkischen Grenzgebiet haben sollte. Wirksamer könne man doch die von Wladimir Putin angestrebte Anti-Terror-Allianz nicht sprengen, bevor sie überhaupt zustande kommt.
Genau diese Wirkung hinterlässt nun eine türkische Rakete. Es scheint müßig, nach den Gründen zu fragen, sie auf eine russische SU 24 abzufeuern, wenn das Motiv auf der Hand liegt. Ankara befürchtet, dass ein Anti-IS- Bündnis, wie es Frankreich so vehement fordert, eher früher als später zu der Erkenntnis gelangt, dass der Erhalt syrischer Staatlichkeit unverzichtbar, aber ohne das Baath-System nicht zu haben ist. Alles andere liefe darauf hinaus, dem Nahen Osten und Nordafrika nach Irak, Libyen und Mali einen weiteren failed state zu verschaffen. Für Präsident Erdogan wäre ein solches Szenario allerdings leichter zu verkraften als ein stabilisierter und befriedeter syrischer Staat. Woraus folgt, wer den Islamischen Staat (IS) und seine Alliierten wirksam und vor allem glaubwürdig bekämpfen will, muss die Türkei davon ausschließen.
Bestenfalls Zweckallianzen
Ebenso gilt, eine internationale Anti-IS-Koalition wird erst dann ein kohärenter Staatenbund sein, wenn ihn ein Minimalkonsens über die Nachkriegsordnung in der Levante zusammenhält. Solange der entbehrt wird, sind nur Zweckallianzen denkbar. Deren Partner sind in Wirklichkeit Gegner, die in Syrien auf verschiedenen Seiten stehen, weil sie nach wie vor entgegengesetze Kriegsziele verfolgen.
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