Würden die Staaten Osteuropas heute auf ihre EU-Tauglichkeit geprüft, dürften sie mehrheitlich durchfallen. Was freilich an zwei Voraussetzungen gebunden wäre. Zunächst einmal müsste das vereinte Europa seinen proklamierten Wertekanon ernst nehmen. Wäre das so, gäbe es keine Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, wenn die so autoritär geführt wird wie seit der Militärdiktatur des Generals Kenan Evren zwischen 1980 und 1989 nicht mehr, und wenn die Armee einen Teil des eigenen Volkes in Südostanatolien zusammenschießen lässt.
Wer will das schon?
Zum anderen müsste das geostrategische Motiv der EU-Osterweiterung erledigt sein oder an Bedeutung verloren haben. Dergleichen ist nicht der Fall. Weder der Westen noch der nichtrussische Osten Europas haben ein Interesse daran, am bündnispolitischen Status quo zu rütteln. Für alle Staaten Mittelosteuropas (MOE) bleibt der Eintritt in EU und NATO die Geschäftsgrundlage ihres System- und Bündniswende von 1990/91. Die Legitimität des politischen Überbaus von Tallinn bis Sofia speist sich – bei allen Unterschieden – bis heute aus der Abkehr von Russland. Wer das in Frage stellt und Beziehungen anstrebt, die eine Äquidistanz zu Brüssel und Moskau befördern, erschüttert ein westliches Paktsystem, das seit 1990 aus Gründen des Selbsterhalts auf Expansion nach Osten gesetzt hat.
Wer will das schon? Oder riskiert das gar? Die EU-Kommission oder die Regierung in Berlin ebenso wenig wie Jaroslaw Kaczyński und seine regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Sie hat bisher bei allem Herumreißen an den Bündnisfesseln einen Joker öffentlich noch gar nicht ausgespielt – die traditionell erbötigen Beziehungen zu den USA, wie sie besonders in der Zeit der Bush-Administration und des Irak-Krieges (2003) eine stark europa-skeptische Komponente aufwiesen. Es war nicht zuletzt die damalige polnischen Regierung unter Leszek Miller von der Linksallainz SLD, die US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Vorlage lieferte, im Frühjahr 2003 vom „alten“ (Deutschland, Frankreich) und „neuen Europa“ (z.B. Polen, auch Ungarn und Tschechien) zu reden.
Exempel Ungarn
Dennoch, bei aller Entfremdung zwischen Brüssel und Warschau oder Brüssel und Budapest – es ändert sich nichts am geostrategischen Imperativ, der 2004 zum Beitritt der ersten acht MOE-Länder zur EU geführt hat: Den Subkontinent des Systemtransfers im Osten als unverzichtbare Macht- und Marktressource des Westens zu halten und zu behandeln. Insofern sind dem Bedürfnis nach externer Disziplinierung der Regierung von Premierministerin Beata SzydłoGrenzen gesetzt.
Sie ergeben sich aus dem bedenklichen Gesamtzustand der EU wie außenpolitischen Zwängen. Solange der Konflikt mit Russland um die Ukraine andauert, sind Strafmaßnahmen wie Sanktionen gegen Warschau eher ausgeschlossen. Noch erwägt die EU-Kommission ein Prüfverfahrens über die Lage des Rechtsstaates in Polen – beschlossen und vollzogen ist nichts. Es ist ins Gedächtnis zu rufen, dass die von der ungarischen Regierung unter Premier Viktor Orbán seit 2010 betriebene Verschlankung des Rechtsstaates bis auf ermahnendes Rüffeln und den üblichen medialen Reponse seit 2010 folgenlos – oder auch ungeahndet – blieb. Seine Fidesz-Partei gehörte nun einmal zur konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), die sich notgedrungen zu einem Ausschluss dieses Partners hätte durchringen müssen, hätte die Brüsseler Kommission auf schwerwiegende Verstöße gegen die EU-Verträge plädiert.
So blieb es bei Ermahnungen und artikuliertem Unbehagen im Umgang mit dem Außenseiter und seinem Regelverstoß. Es lag auf der Hand, sollte die Regierungspartei eines EU-Landes verstoßen werden, gab es nicht nur einen Präzedenzfall – es waren auch eine zeitweilige Suspendierung des abtrünnigen Staates oder gar die Debatte über dessen Verbleib im europäischen Staatenbund auf die Tagesordnung gesetzt. Und was dann? Ausgerechnet Ungarn reglementieren, das mit seiner postkommunistischen Regierung im Sommer 1989 soviel für den Zusammenbruch des Ostblocks getan hatte, als es die Grenzen öffnete?
Logik der Geschichte
Jaroslaw Kaczyński und die PiS berufen sich mit ihrer christlich-nationalistischen Agenda auf Orbán und seinen Bürgerbund (Fidesz). Was sie vereint, ist die Rigorosität bei ihrer Abkehr von EU-Europa. Es gab eine vergleichbare Stimmung in den 90er Jahren, als osteuropäische Transformationseliten den Weg nach Europa als Königsweg ins Gelobte Land priesen. Die damalige Verleugnung der eigenen, nur eben anderen europäischen Identität trug maßgeblich dazu bei, dass inzwischen die Rückkehr zu nationaler Selbstbestimmung in Warschau, Budapest, Prag oder Bratislava derart hoch im Kurs steht.
Verbunden ist diese Tendenz mit einem Projekt, das der ungarische Premier ausdrücklich lanciert hat – die Besinnung auf eine „illiberale Demokratie“. Ist es an dieser Stelle geboten, nicht nur auf die nationale, sondern auch restaurative Qualität der Akteure in Warschau zu verweisen? Jedenfalls erinnern das autoritäre Gebaren und die konservative Inbrunst Kaczyńskis an die Zweite Polnische Republik unter Marschall Józef Piłsudski und dessen Auffassung vom „genesenden“, weil diktatorischen Staat in den späten 20er Jahren.
Ob diese Analogie nun gewollt ist oder nicht – soviel steht fest, die PiS versetzt mit ihrer Performance der Unbeirrbarkeit das Wertesystem EU in einen Zustand, bei dem sich inkompatible Wertekonfessionen gegenüberstehen. Statt liberaler Modernisierer setzen sich in Osteuropa erklärte Traditionalisten durch, die vom Willen beseelt sind, soziale Verwerfungen einzudämmen, wie sie die vermeintliche Wohlstandsmaschine EU hinterlässt. Das Sozialprogramm der PiS-Regierung von Beata Szydlo stellt alles in den Schatten, was die Vorgänger von der Bürgerplattform (PO) zu leisten bereit waren. Wenn man es genau nimmt, ist auch die avisierte Sozialpolitik nicht EU-konform. Die Vorhaben kollidieren mit einer EU der Austerität, wenn sie dem Wert der sozialen Gerechtigkeit mehr Geltung verschaffen wollen als Demokratie und Rechtsstaat. Die erwiesen sich als ohnmächtig oder wirkungslos, als Millionen Menschen in ihren sozialen Grundrechten beschnitten wurden.
Man denke nur an die Rentenreform der Vorgängerregierung von der Platforma Obywatelska. Ohne Gerechtigkeit und soziale Sensibilität ist Demokratie ein Muster ohne Wert. Deutschland mit seinem rigiden Krisenmanagement gegenüber Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien, Irland oder Zypern sollte sich am wenigsten darüber aufregen, wenn in Polen gegen den Zwang zur allgemeinen Wertepflicht in der EU rebelliert wird.
Dass nach der Run-auf-Europa- nun die Retour-Stimmung überwiegt, ist keine Laune der Geschichte, sondern Ausdruck ihrer inneren Logik. Die relativ homogene Multilateralität der EU war eine Qualität des späten 20. Jahrhunderts und eine Konsequenz des Ost-West-Konflikts. Sie wurde mit der Ostausdehnung durch eine Geografie der sozialen Zerklüftung, der Rivalitäten und Ressentiments ersetzt, wie sie das frühe 20. Jahrhundert geprägt hat.
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