Kann denn Feilschen Sünde sein?

Türkei-Farce Die EU ist als Projekt längst überreizt

Man hätte der EU soviel Hang zur Operette um ihrer selbst willen nicht wünschen mögen. Und von der Türkei soviel - sonst oft strapazierten - Nationalstolz erwartet, sich dem unwürdigen Spektakel um die Beitrittsgespräche dann doch zu verweigern. Premier Erdogan hätte durch einen Rückzug seinem Land, vor allen aber der EU einen Dienst erwiesen, den sie nicht verdient, aber braucht. Niemand weiß, wie es nach dem offiziell geleugneten, tatsächlich aber eingetretenen Debakel um die Verfassung weitergehen soll, da entfaltet die Türkei-Frage - man sollte besser von Farce reden - ihre zentrifugale Kraft.

Die Union ist nicht nur überfordert - sie scheint strategisch total überreizt. Warum konnte die türkische Regierung nicht durch stille Diplomatie dafür gewonnen werden, die Aufnahmeverhandlungen wenigstens auf einen Zeitpunkt nach dem Europäischen Rat Ende Oktober zu verschieben? Bis die EU ohne beleidigten Ehrgeiz und ideologische Attitüden, wie sie die Verfassungsdebatte bis heute überlagern, zu einem pragmatischen Verständnis ihrer Grenzen zurückfindet. Spätestens seit dem Beitritt der acht osteuropäischen Länder im Mai 2004 wächst der Druck, die Europäische Union in eine Union der Europäer zu verwandeln. Doch kann das Europa der 25 in seinem jetzigen Zustand diesem Anspruch nur hinterherlaufen. Die kontinentale Integration, gedacht als weltpolitische Emanzipation gegenüber den Vereinigten Staaten, bedarf eines Fundaments, das geostrategisch belastbar ist. Und zwar in jeder Hinsicht, ob es sich um eine "europäische Position" zum US-Angriff auf den Irak oder zur Aufnahme der Türkei handelt. Leider besteht der selbsternannte Global Player vorzugsweise aus viel Anmaßung, was besonders den Herausforderer Amerika freut, auch wenn damit - um beim Thema zu bleiben - der Türkei wenig geholfen ist. Man sähe Atatürks Republik in Washington gern europäisiert und so gegen jede islamistische Versuchung gefeit. US-Außenministerin Rice hat die in Luxemburg streitenden Außenminister davon ausdrücklich in Kenntnis gesetzt.

Bis auf weiteres muss sich europäische Willensbildung mit der ungebrochenen Euroskepsis Großbritanniens ebenso arrangieren wie dem kerneuropäischen Führungsanspruch der EU-Veteranen Deutschland und Frankreich, dem politischen Geltungsbedarf Polens oder dem ökonomischen Nachholbedarf im Baltikum. Nicht zu vergessen Bulgarien und Rumänien, die bereits auf der Schwelle zum Gelobten Land stehen und 2007 beitreten dürfen, während Österreich aus altem Habsburger Korpsgeist gerade Kroatien über die Rote Linie bugsiert hat.

Mit der Türkei könnte nun gar ein Frontstaat die illustre Runde komplettieren. Seine Grenzen zu Syrien, zum Irak und Iran, zu Georgien und Armenien sind vielversprechend. Sie garantieren Nähe zu akuten Konfliktherden. Wer den Partner Türkei aufnimmt, wird zur Konfliktpartei. Vielleicht sogar zur "privilegierten Konfliktpartei", wird der Bewerber nicht zum "privilegierten Partner" herunter gestutzt.

Zehn Jahre sollen verstreichen, bis die EU dieses Abenteuer voll auskosten kann oder doch lieber absagt. Zehn Jahre bleiben auch dem türkischen Staat, um darüber zu entscheiden, ob man beispielsweise den "kurdischen Separatisten und Terroristen" Öcalan begnadigt, weil der Aufstieg des "kurdischen Separatisten und Terroristen" Talabani zum Präsidenten des Irak einen Ausgleich mit den Kurden Südostanatoliens auf die Tagesordnung setzt. Was wäre, sähe sich das Europa der EU von Ankara zu einem Wettbewerb der Humanität herausgefordert, der mit den Feindbildern auch Weltbilder kostet? Wäre es nicht überhaupt die klügste Verhandlungsstrategie, die Türkei würde sich zu sozialen, demokratischen und emanzipatorischen Standards durchringen, die eines Tages berechtigt fragen lassen: Ist uns die EU als vollwertiger Partner noch gewachsen oder kann sie nur ein privilegierter Partner sein?


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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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