Katyn, Smolensk, Krakow

Beisetzung Es wird schwerfallen, nach den Trauerfeiern in Polen in den Alltag zurückzufinden, wenn mit solcher Hingabe der nationale Schicksalsschlag beschworen wurde

Die Republik Polen kann sich seit einer Woche trotz aller Trauer mit der Gewissheit trösten, niemals wieder derart allein zu sein wie im August und September 1939. Sie kann spüren, welcher Respekt ihr widerfährt, auf welche Sensibilität der Umgang mit ihr bedacht ist – wie sie weltweit als tragische Nation verehrt und begriffen wird. Es dürfte wie ein Erwachen sein, unter diesen Umständen zum Alltag und zur Normalität der politischen Kontroversen zurückzukehren, doch wird die voraussichtlich am 20. Juni stattfindende Präsidentenwahl dazu zwingen.

Ans Kreuz geschlagen

Es gibt mit der Trauerfeier in Warschau und der Beisetzung auf dem Wawel in Krakow mehr als nur einen Hauch von sakraler Idealisierung der Gestorbenen, die wie Heroen behandelt werden, als seien sie in einer Schlacht gefallen. Es hat den Anschein, die Toten von Smolensk erzeugen ein Echo, das so klingt, als werde von irgendwoher gerufen: die Toten von Katyn. Wer den Flugzeugabsturz in den Rang eines nationalen Schicksalsschlages erhebt, denkt an das zu ständiger Prüfung durch Unheil und Leid verurteilte Volk. Ans Kreuz geschlagen, auf immer und ewig.

Durch die Metapher geistert ein Selbstverständnis. Es kann zum Verhängnis werden, wird damit ein Selbstbild beschworen, das einen Rückzug in Mystik und Verklärung spiegelt. Lech Kaczynski war ein sehr eigener und sehr anderer Präsident als seine Vorgänger Lech Walesa und Aleksander Kwasniewski, aber er war gewiss kein besserer. Der in Polen selbst ausgetragene Streit über die Beisetzung in der Krakower Königs- und Heldenkrypta hat vermutlich auch etwas mit dieser Gewissheit zu tun.

Trauer braucht ein gnädiges Gedächtnis und Zeit. Vielleicht muss die Waage erst noch gefunden werden, um Vita und Vermächtnis Lech Kaczyńskis zu messen. Ein Gerät, das geeignet sein kann, dem Gewicht seines Lebens und politischen Seins ein Maß zu geben, indem es ihm gerecht wird. Tage, in denen nur der erlittene Verlust zu seinem Recht kommt, sind wenig geeignet, danach zu suchen. Im Kniefall vor dem Präsidentensarg auf der Klaviatur der polnischen Nationalmythen zu spielen, kann jedoch nur dann zu etwas gut sein, wenn sich Polen davon wieder erholt. Und das bald, weil das Land nach der Selbstbesinnung wieder Selbststimmung braucht, die kein starrer Blick auf das Geschehene lähmt.

Das erste Gebot

Die Außenpolitik zu Beispiel, besonders die von Regierungschef Donald Tusk, wird vor der Frage stehen, wie sie es künftig mit Russland hält, nachdem es dessen Führung an aufrichtiger Solidarität und demonstrativem Beistand nach dem 10. April, dem Tag des Unglücks, nicht fehlen ließ. Will Polen der schwierige Partner bleiben, der sich in jüngster Vergangenheit mehr als Gegner denn als Nachbar sah? Es scheint eine politische und moralische Verständigung zwischen Warschau und Moskau möglich, die in mehr gelassene Toleranz mündet als seit 1990 denkbar und erwünscht. Es wäre über einen Beziehungskanon zu reden, dessen erstes Gebot lautet: Wenn Russland seine Interessen in Osteuropa wahrnimmt, bedroht das weder die staatliche Unabhängigkeit Polens noch verletzt es seine nationale Würde.

Präsident Medwedjew und Premier Putin haben sich zur historischen Wahrheit von Katyn bekannt, doch deshalb keine historische Großschuld abzutragen, die auf fortwährende Verantwortung für die Verbrechen des Stalinismus und für den Ribbentrop-Molotow-Pakt hinausläuft. Die jedes politische Handeln unter Verdacht stellt: Die Russen haben nichts gelernt. Sie kratzen sich die Geschichte ungerührt vom Stiefel. Es gibt ihn weiter, den fatalen aggressiven Hochmut gegenüber Polen! Aber miteinander auskommen wollen, heißt auch verzeihen lernen. Denn das heutige Russland verdient es nicht, in die Rolle des Wiederholungstäters gedrängt zu werden, während Deutschland der Absolution des Vergessens anheim fällt.

Leider besteht Grund zur Sorge, dass die polnisch-russischen Beziehungen nicht auf ein neues Gleis gesetzt werden und zu friedlicher Koexistenz finden, sondern ins Mahlwerk des anstehenden Wahlkampfes geraten. Und der beginnt dort, wo der Trauerzug für Lech Kacznyski endet. Allein deshalb wird an Normalität in Polen vorläufig kaum zu denken sein.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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