Ob man es nun Hängepartie nennt oder Gipfel der gestundeten Entscheidung, tut wenig zur Sache. Das inzwischen 15. Krisentreffen seit Ausbruch der Eurokrise kann den großen Befreiungsschlag nicht landen, weil es ihn nicht gibt. Wenn die deutsche Kanzlerin eingesteht, die Höhe eines Schuldenschnitts bei Griechenland sei erst mit den dort engagierten Gläubigerbanken auszuhandeln, sagt das genug. Es gibt keinen Ausweg der sicheren Aussichten. Ihn im Augenblick oder in absehbarer Zeit finden zu wollen, ist aussichtslos.
Woran soll man sich halten? Vielleicht an eine historisch verbürgte Erfahrung? Staatenallianzen können über sich hinauswachsen, wenn existenzielle Not dazu zwingt. Wann wird die EU soweit sein? Wird sie je soweit sein? Auf die Europa-Müdigkeit in den achtziger Jahren wurde mit der Süderweiterung (der Aufnahme Griechenlands, Spaniens und Portugals) reagiert. Auf anfängliche Orientierungslosigkeit in einem um seine Blöcke gebrachten Europa gab es nach 1990 die Osterweiterung, Maastricht und die Gemeinschaftswährung. Womit wird die jetzige Depression aufgefangen?
Oder ist längst der Nachruf auf das vergemeinschaftete Europa fällig wie schon einmal im Frühsommer 2005, als sich Franzosen und Niederländer mehrheitlich einer Europäischen Verfassung verweigerten? Damals jedoch hatte man nicht ökonomisch, sondern „nur“ politisch über seine Verhältnisse gelebt, was sich nach einer Zeit der Desillusionierung und Ernüchterung überwinden oder verdrängen ließ.
Freilich wäre auch mit einer Magna Charta im Rücken der Zustand des europäischen Gebildes im Oktober 2011 kaum weniger desolat. Bestenfalls wäre das Klagen lauter wegen des verspielten schönen Scheins. Doch was können europäische Grundwerte, wie sie seinerzeit der EU-Verfassungsvertrag zur Genüge bereithielt, ausrichten gegen Verschuldungsquoten und Zinsschübe, abstürzende Staatsratings, Bankrottgerüchte und Staatspleiten, Banken-Hybris und Spekulations-Fieber? Gegen Merkels Rhetorik der Ratlosigkeit und Sarkozys verbissene Hinhalte-Taktik?
Die Zeit hochgemuter europäischer Zukunftsgewissheiten, denen zu misstrauen lange Zeit wie feuilletonistische Spiegelfechterei oder kleinkarierter Skeptizismus anmutete, ist vorbei. Hochstapelei fliegt irgendwann auf. Mit einem Hang zur systematischen Anmaßung hatte sich das Europa der Integrierten bis zur Währungsunion erstaunlich weit voran gerobbt und viel Staub aufgewirbelt, um den Blick zu trüben und sich über einen Tatbestand hinweg zu mogeln – besser: hinweg zu lügen. Dieser Staatenbund war nicht nur Freude schöner Götterfunken – er blieb stets eine Wettbewerbs- und Konkurrenzgesellschaft. Es gab ihn nicht unter anderem, sondern vor allem deshalb, weil er genau das war.
Erst recht, als die Gemeinschaftswährung kam. Der Euro war kein Weichzeichner, sondern geeignet, die Konturen zu schärfen und ins Bewusstsein zu rücken: Die Euro-Ökonomien bleiben bei aller Integration und allem Regelwerk nationale Schöpfwerke von Prosperität und Wohlstand – oder des Gegenteils. Versagen sie ihren Dienst wie derzeit in Griechenland, ist die Eurozone kein Arbeitersamariterbund, sondern bestenfalls Desinfektionsanstalt, die Ansteckungsgefahren zu mindern und Epidemien zu verhindern sucht. Der Euro hat Europa bis zur Kenntlichkeit verstümmelt, weil er erkennbar und begreiflich macht: Ein Währungsverbund verlangt Souveränitätsverzicht. Und Souveränitätsverzicht bedeutet unter Umständen auch Prosperitätsverzicht. Für die einen mehr, für die anderen weniger. Aber keinesfalls für Griechen, Iren, Portugiesen, Spanier und Italiener allein. Auch für Deutschland, das wie kein anderes EU-Mitglied und kein anderer Euro-Staat Wohlstand und Sicherheit dem europäischen Markt verdankt.
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