Es hagelt förmlich Offenbarungseide, die in ihrer Dichte als Zeitzeichen zu deuten sind. Großbritannien wollte die Europäische Union schon vor sechs Monaten hinter sich haben. Stattdessen wird es von der Brexit-Frage hypnotisiert und muss damit rechnen, dies noch länger erdulden zu sollen. Mehr als drei Jahre sind vergangen, seit sich am 23. Juni 2016 eine Mehrheit von gut 52 Prozent für eine Abkehr von der EU ausgesprochen hat. Der Vollzug eines demokratischen Votums jedoch – und als solches muss dieses Plebiszit ja wohl gelten – bleibt blockiert. Wird Volkes Wille verhöhnt? Die Demokratie gleich mit, auch wenn Volksbefragungen gegen Missbrauch nie gefeit und manchmal suspekt sind?
Der nächste Offenbarungseid: Die Brüsseler Verhandler haben sich im Namen der EU-Regierungschefs als so unfähig wie unwillig erwiesen, Großbritannien wie einen Drittstaat, vergleichbar der Schweiz, zu behandeln, mit dem ein Auskommen zu finden ist. Stattdessen wird der Aussteiger weiterhin als Mitgliedsstaat betrachtet, gegenüber dem Konzessionen obsolet sind, etwa die Einigung auf ein Freihandelsabkommen noch vor dem britischen Abgang. Womit die Nordirlandfrage sofort gelöst wäre. Ist das Beharren auf dem monolithischen Wirtschaftsblock im Zeitalter der Globalisierung und multilateraler Handelssysteme wirklich der Weisheit letzter Schluss? Und würde ein solcher Vertrag auf Sonderrechte hinauslaufen und die EU als Rechtsgemeinschaft aus den Angeln heben? Sollte es danach gehen, hätte der Euro nie in dieser Art eingeführt werden dürfen, wie das 2002 geschah. Seinerzeit haben ökonomische Interessen rechtliche Belange gnadenlos dominiert. Kein Schritt in der Geschichte des vereinten Europas seit der EWG-Gründung 1957 hat eine ähnliche Rechtsungleichheit und -unsicherheit ausgelöst wie die Gemeinschaftswährung. Die EU teilte sich nicht nur in Euro- und Nicht-Euro-Staaten, es wurde daraus ein Europa der 28 Geschwindigkeiten. Die Union des Wettbewerbs mit annähernd gleichen Chancen für alle fand sich grandios karikiert. Der Euro ließ aus Unterschieden Abgründe werden, als EU-Staaten wie Griechenland zu einschneidendem Souveränitätsverzicht genötigt waren.
Ein weiterer Offenbarungseid führt zu Boris Johnson und der Erkenntnis: Den haben nicht nur die Brexiteers der Tories ins Amt gelotst, den hat Brüssel ebenso zu verantworten, weil sich die EU-Zentrale so kompromisslos verhält, wie das bis zur Stunde geschieht. Ringt sich das Westminster-Parlament nun zu No-No-Deal- bzw. Anti-Johnson-Voten durch, ermannt es sich auch als Souverän gegenüber der EU-Zentrale. Verheißt der Brexit eine Rückkehr zu politischer Selbstbestimmung, dann hat die Opposition im Unterhaus gezeigt, was darunter zu verstehen ist. Man verleugnet sich nicht und schluckt keinen Brexit, der zum Davonlaufen ist und wird. Nur bleibt diese Selbstermächtigung ein Muster ohne Wert, solange nicht das Volk zur Mitentscheidung gebeten wird. Nicht durch ein zweites Referendum, sondern durch Neuwahlen, denen sich alle Parteien sofort stellen, auch wenn damit die Missachtung des 23. Juni 2016 nicht ungeschehen zu machen ist. Insofern kann Boris Johnson nach dem mephistophelischen Prinzip – das Böse zu wollen und das Gute zu schaffen – die Gunst der Stunde für sich in Anspruch nehmen. Wer das Parlament jetzt suspendiert, tut ihm genau genommen einen Gefallen. Es kann sich nur durch Wahlen von diesem Regierungschef befreien und hätte gut daran getan, die zu ermöglichen.
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