Kein Deal, keine Frage

Großbritannien Johnsons Brexit sollte vom Volk bestätigt oder verworfen werden. Es braucht Neuwahlen
Ausgabe 37/2019
Kriegt Johnson das Biest Brexit nicht unter Kontrolle, zieht er alle anderen mit sich in den Abgrud
Kriegt Johnson das Biest Brexit nicht unter Kontrolle, zieht er alle anderen mit sich in den Abgrud

Foto: Andrew Milligan/AFP/Getty Images

Es hagelt förmlich Offenbarungseide, die in ihrer Dichte als Zeitzeichen zu deuten sind. Großbritannien wollte die Europäische Union schon vor sechs Monaten hinter sich haben. Stattdessen wird es von der Brexit-Frage hypnotisiert und muss damit rechnen, dies noch länger erdulden zu sollen. Mehr als drei Jahre sind vergangen, seit sich am 23. Juni 2016 eine Mehrheit von gut 52 Prozent für eine Abkehr von der EU ausgesprochen hat. Der Vollzug eines demokratischen Votums jedoch – und als solches muss dieses Plebiszit ja wohl gelten – bleibt blockiert. Wird Volkes Wille verhöhnt? Die Demokratie gleich mit, auch wenn Volksbefragungen gegen Missbrauch nie gefeit und manchmal suspekt sind?

Der nächste Offenbarungseid: Die Brüsseler Verhandler haben sich im Namen der EU-Regierungschefs als so unfähig wie unwillig erwiesen, Großbritannien wie einen Drittstaat, vergleichbar der Schweiz, zu behandeln, mit dem ein Auskommen zu finden ist. Stattdessen wird der Aussteiger weiterhin als Mitgliedsstaat betrachtet, gegenüber dem Konzessionen obsolet sind, etwa die Einigung auf ein Freihandelsabkommen noch vor dem britischen Abgang. Womit die Nordirlandfrage sofort gelöst wäre. Ist das Beharren auf dem monolithischen Wirtschaftsblock im Zeitalter der Globalisierung und multilateraler Handelssysteme wirklich der Weisheit letzter Schluss? Und würde ein solcher Vertrag auf Sonderrechte hinauslaufen und die EU als Rechtsgemeinschaft aus den Angeln heben? Sollte es danach gehen, hätte der Euro nie in dieser Art eingeführt werden dürfen, wie das 2002 geschah. Seinerzeit haben ökonomische Interessen rechtliche Belange gnadenlos dominiert. Kein Schritt in der Geschichte des vereinten Europas seit der EWG-Gründung 1957 hat eine ähnliche Rechtsungleichheit und -unsicherheit ausgelöst wie die Gemeinschaftswährung. Die EU teilte sich nicht nur in Euro- und Nicht-Euro-Staaten, es wurde daraus ein Europa der 28 Geschwindigkeiten. Die Union des Wettbewerbs mit annähernd gleichen Chancen für alle fand sich grandios karikiert. Der Euro ließ aus Unterschieden Abgründe werden, als EU-Staaten wie Griechenland zu einschneidendem Souveränitätsverzicht genötigt waren.

Ein weiterer Offenbarungseid führt zu Boris Johnson und der Erkenntnis: Den haben nicht nur die Brexiteers der Tories ins Amt gelotst, den hat Brüssel ebenso zu verantworten, weil sich die EU-Zentrale so kompromisslos verhält, wie das bis zur Stunde geschieht. Ringt sich das Westminster-Parlament nun zu No-No-Deal- bzw. Anti-Johnson-Voten durch, ermannt es sich auch als Souverän gegenüber der EU-Zentrale. Verheißt der Brexit eine Rückkehr zu politischer Selbstbestimmung, dann hat die Opposition im Unterhaus gezeigt, was darunter zu verstehen ist. Man verleugnet sich nicht und schluckt keinen Brexit, der zum Davonlaufen ist und wird. Nur bleibt diese Selbstermächtigung ein Muster ohne Wert, solange nicht das Volk zur Mitentscheidung gebeten wird. Nicht durch ein zweites Referendum, sondern durch Neuwahlen, denen sich alle Parteien sofort stellen, auch wenn damit die Missachtung des 23. Juni 2016 nicht ungeschehen zu machen ist. Insofern kann Boris Johnson nach dem mephistophelischen Prinzip – das Böse zu wollen und das Gute zu schaffen – die Gunst der Stunde für sich in Anspruch nehmen. Wer das Parlament jetzt suspendiert, tut ihm genau genommen einen Gefallen. Es kann sich nur durch Wahlen von diesem Regierungschef befreien und hätte gut daran getan, die zu ermöglichen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden