Kleiner, kontinentaler, kantiger

EU/NATO Ohne Rücksicht auf die Briten nehmen zu müssen, sollte sich das vereinte Europa auf eine eigene Außenpolitik und Sicherheitsidentität verständigen
Ausgabe 28/2016
Bessere Zeiten: Dmitri Medwedew (links) beim NATO-Gipfel 2010
Bessere Zeiten: Dmitri Medwedew (links) beim NATO-Gipfel 2010

Foto: Dominique Faget/AFP/Getty Images

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schien beim Warschauer NATO-Gipfel kaum davon beseelt, dem Eindruck entgegenzuwirken, dass die EU durch den Brexit geschwächt, der Militärpakt dagegen gestärkt wird. Man sah kein Understatement. Wenn Großbritannien ausschert, wird das den amerikanischen Einfluss auf die europäische Machtgleichung erhöhen. Das Vehikel wäre die NATO, der Motor das Zusammenspiel zwischen Washington und London.

Hat sich damit definitiv jede Emanzipation von Amerika erledigt, wie sie einst mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) beabsichtigt war? International homogen aufzutreten galt seit 1992 – neben der Innen- und Rechtspolitik wie der Währungs-union – als eine der drei Säulen des Maastricht-Prozesses. Leider wurde nicht bedacht, wer derart nach außenpolitischem Ranking strebt, sollte sich zunächst über eine europäische Sicherheitsidentität verstän-digen. Vielleicht hat die GASP so selten einen wahrnehmbaren Fußabdruck hinterlassen, weil genau das unterblieb.

Warum nicht das Versäumte nachholen? Warum nicht jetzt, wenn Rücksichten auf unwillige Briten entfallen? Und weshalb nicht mit der Russland-Politik beginnen? Derzeit wird europäische Sicherheit fast ausschließlich über das Verhältnis zur Großmacht im Osten definiert.

Die Briten waren da gern auf Härte aus. Premier Cameron verwarf bis zuletzt jede Konzession bei den Russland-Sank-tionen. Er betrachtete die Ukraine als baldigen NATO-Staat und begrüßte es, als sich Ex-Ölmagnat Chodorkowski in London niederließ, um ein Basis-camp für kremlkritische Interventionen zu betreiben. Davon abgesehen, war das EU-Mitglied Großbritannien wegen seiner transatlantischen Bindungen nie für eine eigene EU-Sicherheitspolitik zu haben. Die hätte ja in eine europäische Verteidigungsidentität münden und die Bündnisräson gegenüber den USA gefährden können. Welches Desaster! Womöglich hätte es keine Entente cordiale zwischen George W. Bush und Tony Blair gegeben. Und damit keinen Krieg im Irak, keine Besatzung, keine Zerstörung einer Gesellschaft, die heute am Terror verzweifelt. Woran sich Frankreich und Deutschland (ebenso wie Russland) nicht beteiligten, und so das vereinte Europa allzu großer Schuld entging, ohne jedoch schuldlos zu sein.

Lange ist es her

Dieses Europa wird nun kleiner, kontinentaler – und außenpolitisch kantiger? Letzteres könnte einem Umgang mit Russland dienen, der statt Konfrontation auf die Koexistenz unterschiedlicher politischer Kulturen setzt. Und wenn das als Innovation noch nicht reicht, sollte auf die nächsten Erweiterungsrunden verzichtet werden. Sie können die EU nur weiter verwässern.

Ohnehin wird es schwer genug, mit den jetzigen Mitgliedern eine Sicherheitsidentität zu finden, die sich von der NATO schon deshalb absetzen müsste, weil nicht alle EU-Staaten in deren Bestand sind. Wie das vonstatten gehen könnte? Man sollte auf den NATO-Gipfel 2010 in Lissabon zurückkommen. Bevor er damit abblitzte, durfte der damalige russische Präsident und Gipfelgast (!), Dmitri Medwedew, einen europäischen Sicherheitsvertrag vorschlagen. Damit sollte das Sicherheitsgefälle vom Atlantik bis zum Ural überwunden werden, indem alle Staaten gleiche Sicherheitsgarantien erhielten. Die NATO winkte ab aus Furcht, dies führe zu einem europäischen Sicherheitssystem und mache sie überflüssig. Die EU muss diese Angst nicht haben. Ihr Status quo ist bekanntlich kein Dogma.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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