Korrespondierende Kalküle

Niederlande/Türkei Da haben sich zwei gefunden. Weniger durch weltanschauliche Nähe, mehr als Liebhaber taktischer Hardware – Premier Rutte und Präsident Erdoğan
Niederländische Polizei blockiert türkische Politiker
Niederländische Polizei blockiert türkische Politiker

Foto: AFP

Der niederländische Premier und türkische Präsident Erdoğan haben als schicksalsträchtig geltende Abstimmungen vor sich. In der Niederlanden will die Freiheitspartei (PVV) von Geert Wilders stärkste Kraft werden und schindet mit der Suggestion Eindruck und Prozente, die bisherige Regierung schütze nicht genügend gegen Überfremdung und islamistische Gefahren. Sie schade der Identität. Nein, sie zerstöre, was davon noch übrig sei.

Wie gerufen kommen da zwei Minister der AKP, an denen sich das erwünschte Exempel statuieren und gerade noch rechtzeitig vor der Parlamentswahl nachweisen lässt – eine feste Burg ist unter Land, Erdoğans Verfassungswerber sollen sich daran wund scheuern. Tun sie aber nicht, sondern werden als Opfer antidemokratischer Willkür in Europa zu Herolden einer demokratischen Flurbereinigung in der Türkei, tönt es aus Ankara. Am 16. April soll diese Flurbereinigung vollzogen werden und unumkehrbar sein – durch ein Ja beim Referendum, ein Ja zur Präsidialverfassung, ein Ja zur Autokratie.

Um keinen Zweifel zu lassen, dass damit an die ultimative Abkehr von Europa gedacht ist, schmäht Präsident Erdoğan EU-Staaten wie die Niederlande als „faschistisch“, was nach Aussatz klingt, der geächtet gehört. Derart inkriminiert kann Mark Rutte zu Recht fragen: Haben wir es nicht verdient, weiterzuregieren, wenn wir es zu solchen Feinden gebracht und uns ihrer zu erwehren haben? Der Antwort soll nicht Geert Wilders, sie darf am 15. März der Wähler geben. Und er wird.

Ebenso so hochtourig kann Erdoğan argumentieren, wenn er all jene Landesverräter nennt, die vergessen, gerade jetzt die nationale Würde und den Stolz der Türkei zu verteidigen, und lieber über die Verfassung diskutieren, die 16. April durchgewunken werden soll.

So mag bei Rutte und Erdoğan nicht Herz zu Herzen finden, aber Kalkül zu Kalkül. Schon beim nächsten NATO-Gipfel im Mai in Brüssel werden Niederländer und Türken wieder an einem Tisch sitzen. Deutsche und Türken sicher auch. Jedes Drama braucht retardierende Momente, um ausgespielt zu werden.

Wäre eine solche Eskalation zu vermeiden oder einzudämmen, würde die Türkei kurz vor einer EU-Aufnahme stehen? Bei seit mehr als zwölf Jahren andauernden Beitrittsgesprächen könnte man das annehmen. Auch dass bei solchem Verhandlungsmarathon eine Mitgliedschaft bereits besteht, erscheint nicht völlig abwegig.

Berechtigter Eindruck

Heute kann die AKP-Führung die Hinhaltetaktik der EU als Täuschung und Brüskierung schmähen, die den Aspiranten verletzt und gedemütigt habe, da nie wirklich an einen emanzipatorischen Umgang mit der Türkei in Europa gedacht wurde. Und man muss diesem Eindruck bescheinigen, berechtigt zu sein.

Die deutsche EU-Führungsmacht wollte Ankara seit der Kanzlerschaft Angela Merkels (darin übrigens bestärkt von den Niederlanden) nie mehr als eine privilegierte Partnerschaft zugestehen. Das hatte mit innenpolitischen Motiven zu tun, folgte aber ebenso der Annahme, dass ein solcher EU-Staat mit elementaren Interessen in der nahöstlichen Region die Gemeinschaft zu einer Nahostpolitik zwingen würde, die Israel schaden könnte oder zumindest dessen Belange nicht mehr so berücksichtigen würde wie bisher. Für Deutschland undenkbar, weil ein Verstoß gegen die Staatsräson. Das einzugestehen, hätte was bedeutet? Gar nicht erst zu verhandeln? Oder damit beginnen, aber ehrlich sagen, dass am Ende keine EU-Vollmitgliedschaft steht?

Die Regierung der AKP – damals noch mit dem Ministerpräsidenten Erdoğan an der Spitze – hat seit 2005, sicher auch taktisch geprägt, einem EU-Beitritt Priorität eingeräumt. Sie hat eine Reihe von Reformen durchgesetzt, vorrangig gegen die Armee und Staatsbürokratie, die sich als Bewahrer des kemalistischen, zentralistischen und säkularen Staates verstanden. Gleichsam wurde bei EU-Standards wie demokratischen Rechten, der Gewaltenteilung oder dem Minderheitenschutz gehenüber den Kurden nie erreicht, was in Brüssel gefordert war. Doch musste das nicht erst recht dazu führen, der Türkei einen festen europäischen Anker zu geben, um sie zu verpflichten, sie einzubinden und als "europäische Macht" beeinflussen zu können? Oder aber deren Unterhändlern in Brüssel zu bedeuten, es hat keinen Zweck, bei uns weiter auf der Schwelle zu stehen?

Lobby der AKP

Übersehen wurde, dass verweigerte EU-Weihen auch die große türkische Diaspora in Europa nicht unberührt lassen. Je mehr Brüssel Ankara die kalte Schulter zeigte, desto mehr wurden die Türken von der AKP und Erdoğan persönlich als politische Ressource entdeckt. Im März 2010 bei einem Auftritt in Köln fiel unter frenetischem Beifall sein Satz: „Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit".

Die türkisch-stämmigen Mitbürger in Deutschland – oft gläubiger, konservativer und nationalbewusster als ihre Landsleute zuhause – waren als Lobby der AKP auserkoren. Und viele wurden genau das, wenn der Augenschein nicht trügt. Sie wurden animiert, in der neuen Heimat ihre Herkunft geltend zu machen. Die doppelte Staatsbürgerschaft erschien als günstiges Vehikel, hier wie dort politisch aktiv oder ansprechbar zu sein, hier in einer ethnischen Enklave zu leben, dort die Führer eines sich herauskristallisierenden Religionsstaates zu wählen.

Diese Projektion scheint sich erfüllt zu haben. Warum sonst reisen AKP-Minister in Scharen durch Europas türkische Diaspora, wenn es mit einer neuen Magna Charta um eine Ent-Europäisierung der Türkei geht? Dort steht schließlich keine Reform des Regierungssystems an, sondern ein radikaler Systemwechsel. Wer das als Deutsch-Türke verinnerlicht, muss sich hiesigen Verhältnissen entfremden.

Auf jeden Fall wird eine präsidiale Autokratie der Türkei mehr Kompatibilität mit der nahöstlichen Nachbarschaft verschaffen und die Abkehr von Europa besiegeln.

Das daran auch die EU mit ihrer ambivalenten Türkei-Politik einen Anteil hat, steht außer Frage. Sie hat sich nicht nur übernommen, sie war auch überfordert und unfähig, das einzugestehen. Sie hat den fraglos mit vielen Risiken behafteten Weg der Türkei nach Europa nicht wirklich gewollt, aber so getan, als wäre es anders. Das rächt sich jetzt und hilft bei Erdoğans Staatsumbau. Bleibt nur zu hoffen, dass die türkische Community in Deutschland oder auch in den Benelux-Staaten weniger verführbar ist, als das gerade den Anschein hat. Dass sie sich nicht wie eine Fünfte Kolonne instrumentalisieren lässt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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