Kollaps der Contenance

Morales in Wien Nicht einmal in den Hochzeiten des Kalten Krieges war es üblich, das Flugzeug eines Präsidenten abzufangen, aufzuhalten und von der Polizei durchsuchen zu lassen
Morales' Dassault Falcon auf dem Wiener Flughafen
Morales' Dassault Falcon auf dem Wiener Flughafen

Bild: Patrick Domingo / AFP - Getty Images

Offenbar gelten Politiker wie Evo Morales als missliebige und fragwürdige Gestalten, bei denen man auf den üblichen Respekt vor Amt und Person verzichten darf. Boliviens Präsident gehört zu den Staatschefs Lateinamerikas, die seit gut einem Jahrzehnt nach weniger Abhängigkeit von den USA durch mehr nationale Souveränität streben. Diesem Bemühen haben sich außer Bolivien auch Venezuela, Ecuador, Uruguay, Argentinien und Brasilien verschrieben. Ist das ein Grund, derart entwürdigend behandelt zu werden wie soeben geschehen? Auszuschließen ist es nicht.

Morales wird unterstellt, der Fluchthelfer Edward Snowdens zu sein. Prompt sperren ihm Frankreich, Portugal, Italien und Spanien den Luftraum. Wie es scheint, eine willkommene Gelegenheit, dadurch allen die Instrumente zu zeigen, die sich für Snowden verwenden könnten. Darin liegt wohl die entscheidende Nachricht nach dem „Zwischenfall von Wien“: Niemand wird geschont bei der Jagd nach Snowden, auch der internationale Luftraum nicht. Er wird zum rechtsfreien Raum, wenn es sein muss. Was mit einer Regierungsmaschine passiert, kann erst recht jedem gewöhnlichen Linienflugzeug widerfahren. Damit ist endgültig geklärt, der Whistleblower kann vorläufig weder nach Ecuador noch Venezuela noch sonst irgendwo hin, sofern die Anreise per Flugzeug in Betracht kommt. Er war gut beraten, von Hongkong aus nicht nach Quito, sondern nach Moskau zu fliegen. Er wäre vermutlich nie angekommen.

Es sind die Nerven

Die zweite Erkenntnis dieses 3. Juli 2013 lautet: Die USA müssen sich nicht allein um ihren derzeitigen „Staatsfeind Nr. 1“ kümmern – sie können im Westen auf willfährige Helfer rechnen. Das Angebot reicht von Staaten wie Deutschland, die sich den politischen Emigranten Snowden verbitten, bis zu Frankreich, Portugal, Spanien und Italien, die ihren Luftraum als Barriere für Jets mit mutmaßlich verdächtiger Fracht zur Verfügung stellen.

Die Nerven liegen blank. Man erlebt einen Kollaps der Contenance. Argentiniens Präsidentin Cristina de Kirchner hat recht – aber nur zur Hälfte – wenn sie twittert: „Sie (die Europäer – l.h.) sind definitiv alle verrückt. Staatschefs und ihre Flugzeuge genießen absolute Immunität.“ Die Europäer sind allerdings nicht verrückt, sondern um den Nachweis bemüht, wie hysterisch man doch sein kann. Das ist sehr hilfreich und lehrreich. Die zivilisatorischen Standards des Westens werden verstümmelt bis zur Kenntlichkeit. Was ist mit dem Schutz und der Freiheit des Individuums, wofür Edward Snowden mehr getan hat, als die Regierungen in Paris, Rom, Lissabon und Madrid zusammen?

Ausgerechnet Frankreich, das sich unter gaullistischen Präsidenten bis hin zu Jacques Chirac einer eigenständigen, auf Distanz zu den USA bedachten Politik befleißigt hat, legt wert darauf, diplomatisches Porzellan zu zerschlagen. Die politischen Kollateralschäden des erzwungenen Wien-Stopps von Evo Morales sind beachtlich. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat durch das Statement von Generalsekretär José Miguel Insulza sofort mit einer energischen Intervention reagiert. Innerhalb von 24 Stunden hat sich die Union der Südamerikanischen Staaten (Unasur) zu einem Protest-Gipfel verabredet.

Wir leben eben nicht mehr im 20. Jahrhundert, als sich die Staaten dieses Subkontinents vermutlich nicht so schnell und nicht so einmütig zur konzertierten Aktion gefunden hätte. Aber jetzt soll diese Provokation gebührend beantwortet werden.

Wo bleibt nur die Würde Frankreichs, Portugals, Spaniens und Italiens, die zumindest als EU-Mitgliedsstaaten zum Opfer einer massiven US-Cyberspionage geworden sind? Da sollte man eigentlich nach menschlichem Ermessen nichts weniger tun, als die Jagd auf Edward Snowden zu begünstigen. Augenscheinlich ist diese Annahme eine Zumutung.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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