Alle Welt redet vom freien Fall, dem die russische Wirtschaft kurz vor Jahresende ausgesetzt ist. Was eine ebenso aufgescheuchte Resonanz verdient, aber nicht bekommt, ist der offensichtliche, quasi eingestandene Staatsbankrott der Ukraine. Aber so ist das: Die selektive Wahrnehmung entspricht der widersprüchlichen Interessenlage von Verbündeten und Förderern der Regierung Poroschenko/Jazenjuk im Ausland.
Unisono müsste aus dieser Richtung der Rat, wenn nicht die Forderung laut werden: Beenden Sie den Krieg im Osten, suchen Sie nach einer Verhandlungslösung, gehen Sie vom Status quo aus, den neuen politischen Realitäten und territorialen Entitäten im Raum Donezk und Luhansk. Es gibt dazu im Augenblick keine sinnvolle Alternative. Und wohlfeiler als jeder weitere Tag im Krieg ist sie auch.
Noch mal 15 Milliarden
Allein könnte die Kiewer Administration ihren seit Mai andauernden Feldzug gegen einen Teil des eigenen Volkes weder durchhalten noch finanzieren. Es sind externe oder die oligarchischen Geldgeber, die sie dazu in die Lage versetzen und eine Mitverantwortung tragen. Um nicht zu sagen: Mitschuld an mehr als 3.000 Toten seither. Allerding läuft die EU mehr denn je Gefahr, sich mit ihrem Engagement zu übernehmen. Dass plötzlich seit gut einer Woche im Raum Donbass eine Waffenruhe gilt und eingehalten wird, hat nicht nur etwas mit dem Winter, der Erschöpfung von Menschen und Material wie dem hohen Zerstörungsgrad einer ganzen Region zu tun.
Der Besuch des ukrainischen Premiers Arseni Jazenjuk zu Wochenbeginn in Brüssel trug dramatische Züge. Seine Botschaft war eindeutig; Ohne viel mehr (!) westliche Hilfe ist der ukrainische Staat zahlungsunfähig und wüsste nicht, wie das Land über den Winter gebracht werden soll. Jazenjuk hat noch einmal einen Kreditbedarf von 15 Milliarden Dollar reklamiert, wohlgemerkt zusätzlich zu den 17 Milliarden, die der IWF bis Anfang 2016 überweisen will und von denen bisher zwei Tranchen ausgezahlt wurden, zusätzlich zur Soforthilfe der USA in Form einer Kreditbürgschaft von einer Milliarde Dollar und ähnlich gelagerten Gaben der EU in Höhe von 1,6 Milliarden Euro.
Auswege der Vernunft
Wie vorteilhaft wäre es jetzt, dieser Situation durch eine „konzertierte Aktion“ mit Russland begegnen zu können. Die Regierung in Moskau würde sich vermutlich nicht dagegen sperren, müssen doch gerade russische Investoren – besonders manche Finanzinstitute – fürchten, dass bis auf weiteres die an ukrainische Abnehmer vergebenen Kredite nicht mehr bedient werden.
Nur kann die Embargo-Fraktion in der EU (Deutschland, Niederlande, Frankreich, Spanien, Großbritannien) schlecht auf Wirtschaftssanktionen gegen die russische Ökonomie beharren und zugleich nach Auswegen der Vernunft suchen. Wirkt das schon einigermaßen vernagelt, ist man steigerungsfähig bis zur Paradoxie.
Die überfällige Bezahlung eines Teils der ukrainischen Gasschulden an den russischen Gasprom-Konzern in Höhe von 4,9 Milliarde Dollar, wäre ohne Zugriff auf Kredite von IWF und EU unmöglich. Was eine unterlassene Schuldentilgung für einen Energietransfer Russland via Ukraine im Winter bedeutet hätte, liegt auf der Hand. Daher ist eine so absurde wie aussagekräftige Lage eingetreten: Westliche Kreditgeber begleichen gegenüber Russland ukrainische Schulden und gehen in Vorkasse für anstehende Gaslieferungen. Er werden damit einem russischen Energiekonzern Einkünfte verschafft, dem durch die Sanktionen eigentlich geschadet werden sollte. Kurz gesagt, die Ukraine-Kredite der EU konterkarieren die Russland-Sanktionen der EU. Woran sich in absehbarer Zeit wenig ändern wird.
Keine soziale Dividende
Regierungschef Jazenjuk muss in Brüssel einräumen, dass die staatlichen Devisenreserven auf unter zehn Milliarden Dollar (der russische Wert: 454 Milliarden Dollar) geschrumpft sind. Noch Mitte 2013 lagen die ukrainischen Staatsschulden in der Summe aller Verbindlichkeiten im In- und Ausland bei 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), für Ende 2014 hat sich dieses Volumen auf 70 Prozent erhöht (auch hier der russische Wert: 10,0 Prozent).
Die Bilanz kann nicht überraschen, die Wirtschaftsleistung der Ukraine ist in diesem Jahr um zwölf Prozent eingebrochen, die Währung Hrywna hat im Verhältnis zum Dollar etwa 55 Prozent verloren. Die Kapitalflucht, Unwuchten im Außenhandel und erhöhte Energiepreise haben zu einer Inflationsrate von mehr als zehn Prozent geführt.
Was die Regierung nun durchdrücken will und nach dem Willen der EU als Beweis ihrer Reformfähigkeit auch muss, ist ein Aderlasse sondergleichen: Das Rentenalter soll auf 65 Jahre (durchschnittliche Lebenserwartung: 63 Jahre) hochgesetzt werden, der Gaspreis für private Haushalte um etwa 50 Prozent steigen, während der Staatshaushalt für 2015 auf ein Viertel der noch 2014 getätigten Einnahmen verzichten muss. Zum Jahreswechsel ist der größte Finanzinvestor des Landes eine EU-Institution – die European Bank for Reconstruction and Development EBRD.
Das Grundproblem der Ukraine heißt nicht Russland, sondern ist die Ukraine selbst oder besser ein ukrainische Staat, dem ohne westliche Protektion ein griechisches Schicksal beschieden ist und bis auf weiteres die oligarchische Dominanz erhalten bleibt. Es dürfte feststehen, dass sich die meisten Hoffnungen auf einen sozialen Mehrwert des Maidan vorerst zerschlagen haben. Die Regierung Poroschenko/Jazenjuk wird das Rückhalt kosten, wahrscheinlich Proteste einbringen.
Überdies war ihr Ergebnis bei der Parlamentswahl am 26. Oktober mit einer Wahlbeteiligung von 53 Prozent nicht eben überwältigend – mit zusammen gut 40 Prozent der Stimmen wurden ihre Parteien Volksfront (Jazenjuk) und Block Petro Poroschenko letzten Endes nur von gut 20 Prozent der Wahlberechtigten gewählt. Das verschafft der artikulierten Hilfsbedürftigkeit gegenüber der EU und anderen Kreditgebern wie dem IWF mehr Durchschlagskraft. Lasst ihr uns fallen, werden wir fallen, können Poroschenko und Jazejuk argumentieren.
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