Kriterien des Abzugs

Strategie Über Exit-Strategien nachzudenken, heißt nicht, Zeitpläne für Abzugsszenarien zu entwerfen, sondern Kriterien zu benennen, von denen sie abhängen

Strategische Komponente

Die US-Intervention im Oktober 2001 sollte ein Afghanistan der Taliban ausschalten, das als Operationsbasis von al Qaida und anderer Netzwerke galt. Inzwischen hat sich gezeigt, dass sowohl mit diesem Vorgehen wie auch einer fortwährenden Besatzung dem internationalen Terrorismus neue Rekrutierungsfelder geschaffen wurden. Konsequenz: Der Kampf gegen den Terror kann nicht als Krieg gegen den Terror gewonnen werden. Deshalb ist ein Strategiewechsel nötig, der mehr innere Stabilität Afghanistans bewirken muss, wenn über Exit-Strategien nachgedacht werden soll.

Tatsache ist: Afghanistan und Pakistan bleiben strategische Interessensphären der USA.


Bündnis-Komponente

Als die NATO 2003 das ISAF-Kommando übernahm, entsprach das der geltenden Bündnisstrategie von einer globalen Aktionfähigkeit. Inzwischen sind nirgendwo Zusammenhalt und Glaubwürdigkeit der Allianz so gefordert wie in Afghanistan. Es gilt die Devise, mit den USA aushalten und überleben oder abziehen und scheitern. Da die NATO mit ihrer Präsenz im Norden (seit 2004) und Westen (seit 2005) die Aufstandsbewegung gleichfalls dorthin gelenkt hat, soll ein vorsichtiges Disengagement in den kommenden Jahren eine Befriedung dieser Regionen befördern.

Tatsache ist: Nur mit der NATO können die USA in Afghanistan eine Niederlage – vergleichbar mit der in Vietnam ­– vermeiden.


Regionale Komponente

Die Befriedung Afghanistans wird ohne ein stabiles Pakistan und die Einigung über die Grenze zwischen beiden Staaten nicht möglich sein. Die Durand-Linie trennt das Volk der Paschtunen seit der willkürlichen Grenzziehung durch britische Kolonisatoren 1893 und wird von Afghanistan nicht anerkannt. Denkbar wäre ein kollektives Sicherheitssystem regionalen Zuschnitts nach dem Vorbild der OSZE, für das China, Russland und die USA als Garantiemächte in Betracht kämen. Inwieweit Indien einbezogen werden kann, lässt sich nicht vom Verhältnis zu seinem Erzrivalen Pakistan trennen.

Tatsache ist: Jede Regierung in Kabul braucht regionale Verbündete.


Militärische Komponente

Die Eigenverantwortung des afghanischen Staates für seine Sicherheit hängt zuallererst von Ausbildung und Ausbau der National- armee (ANA) ab. Deren Einheiten rekrutieren per 31. Oktober 2009 etwa 94.000 Mann in fünf Regionalverbänden und einem Heeresfliegerkorps. Bis zum 31. Dezember 2011 soll dieser Bestand – internationale Finanzen und Ausbildungshilfen vorausgesetzt – auf 134.000 Soldaten wachsen. Bei ihrer Tagung am 24. Oktober in Bratislava haben die NATO-Verteidigungsminister einen Mindestbestand von 240.000 Mann (plus 160.000 Polizisten) geltend gemacht.

Tatsache ist: Mindestens bis 2014 kann die ANA weder NATO- noch US-Truppen ansatzweise ersetzen.


Innenpolitische Komponente

Die afghanische Aufstandsbewegung umfasst Ende 2009 mehr als die bewaffneten Formationen der Taliban – sie ist auf ein Ende der Besatzung und die Rückkehr zu voller nationaler Souveränität gerichtet. Ihr Rückgrat ist das Volk der Paschtunen, das zu zwei Fünfteln die Bevölkerung Afghanistans bildet. Es wird auf Dauer keinen anderen Ausweg geben, als diese Résistance durch Verhandlungen, Annäherung und Aussöhnung in die zentralen und regionalen Machtstrukturen zu integrieren.

Tatsache ist: Nur eine Regierungs-teilhabe der Taliban kann eine Rückkehr zu dem zwischen 1996 und 2001 in Afghanistan bestehenden Kalifat verhindern.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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