Innenminister Jack Straw von den britischen Sozialdemokraten kann nicht an einen Wahlsieg seines Gesinnungsgefährten von den chilenischen Sozialdemokraten, Ricardo Lagos, geglaubt haben. Wie ließe sich sonst erklären, dass er mit der avisierten Entlassung Pinochets aus englischem Nobel-Arrest dem neuen Präsidenten gleich einen brisanten Konfliktfall serviert, der eine nach wie vor empfindliche Balance zwischen der sakrosankten Autorität chilenischer Generäle und der demokratischen Legitimation chilenischer Politiker zu erschüttern droht. Noch ist nicht entschieden, wann und ob überhaupt Pinochet ziehen darf. Für Lagos allerdings bleibt das Schicksal des hinfälligen Ex-Diktators unweigerlich eine Last. Darf Pinochet nicht heimkehren, wird der neue Präsident aus nationalem Prestige genau das verlangen und einen Prozess in Chile ankündigen. Tritt das Gegenteil ein, wird an der Prozessabsicht selbstverständlich festgehalten - bis alle erleichtert eingestehen, dass sich Chile ja den Luxus eines Senators auf Lebenszeit mit einer Immunität auf Lebenszeit leistet. Es sei denn, die Legislative schleift diese Insel des Pinochetismus. Schwer vorstellbar bei einem Senat mit einem klaren Übergewicht der Rechtsparteien Unión Democrática Independiente und Renovación Nacional. Nur um den Preis autoritärer Enklaven war 1989 eine unblutige Rückkehr zur Demokratie möglich. Darauf kann sich jeder Staatschef berufen und eine Kriegserklärung an die Militärs nur im äußersten Notfall riskieren. Wird der mit Pinochet heraufbeschworen? Ist der nicht längst eher Fossil als Täter? Sollte sich Chile weiter an seiner Vergangenheit reiben, anstatt forsch in eine von Verheißungen gesättigte Zukunft zu gleiten?
Ricardo Lagos wäre sicherlich dankbar, müsste er darauf nicht schon heute oder morgen verbindlich antworten, schwebt doch über allem die Frage nach seinem Verständnis von Staatsräson. Gilt die des Verfassungsbruchs vom 11. September 1973? Oder die der Verfassungstreue vom 11. September 1973? Gilt die des Putschisten Pinochet - oder die des Präsidenten Allende? Gilt die der Pinochet-Apologeten, für die mit dem Staatsstreich von 1973 lediglich "ein paar kommunistische Terroristen aus dem Verkehr gezogen" wurden - oder gilt die der Verschleppten, Gefolterten, Ermordeten, "Verschwundenen"?
Heute wären der Sozialist Lagos und der Sozialist Allende vermutlich nicht in der gleichen Partei. Chiles künftiger Präsident denkt an reformorientierte Veränderungen innerhalb eines neoliberalen Systems, sofern die christdemokratischen Partner in der regierenden Concertación mitspielen. Allende wollte vor 30 Jahren mit der Unidad Popular ein anderes System und hatte dafür zeitweise die Chilenen in ihrer Mehrheit hinter sich. Lagos wird Chiles neureiche Minderheit nicht mit revolutionärer Kühnheiten beunruhigen. Aber - er sieht sich der Erwartung ausgesetzt, eine bisher staatlich garantierte Unantastbarkeit des Post-Pinochetismus aufzukündigen. Die mögliche Heimkehr der Symbolfigur dieses Erbes bietet dafür eine - möglicherweise - einmalige Gelegenheit. Eine politische Herausforderung für den Präsidenten Lagos? Eher wohl eine moralische Hypothek für den Sozialisten. Und eine Chance, sich von seinen Vorgängern Aylwin und Frei deutlicher zu unterscheiden als heute vermutet wird.
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