Land der begrenzten Möglichkeiten

Machtwechsel Der designierte US-Außenminister Antony Blinken sieht Amerika wieder als globale Führungsmacht – und unterschätzt den Lauf der Welt
Antony Blinken
Antony Blinken

Alex Edelman-Pool/Getty Images

US-Außenpolitik im postamerikanischen Zeitalter zu betreiben, heißt das zwangsläufig, Amerikas Führung in der Welt zu erneuern? Joe Bidens Außenminister Antony Blinken bejaht das, lässt aber offen, wie realistisch dieser Anspruch ist, und wozu er taugen soll.

Als Barack Obama vor genau zwölf Jahren antrat und den republikanischen Vorgänger Bush beerbte, hatte sich die imperiale Ambition in einem weltumspannenden „Krieg gegen den Terror“ erschöpft. George W. Bush hatte nach 9/11 in der religiös anmutenden Aufwallung eines Berufenen gehandelt, der das „Böse“ in der Welt treffen und aus derselben verbannen wollte.

Auch wenn sie solcherart missionarische Inbrunst nicht teilten oder zumindest bezweifelten, wurde den westlichen Verbündeten Gefolgschaft abverlangt. Sei es bei der Intervention gegen Afghanistan (2001) oder gegen den Irak (2003). Für die anschließend etablierte Besatzungsmacht galt das gleichermaßen. Bush entledigte sich seines selbstgestellten Auftrags mit einem Hang zur unilateralen Anmaßung.

Was Barack Obama korrigierte, jedoch nichts daran ändern konnte, dass die USA bis heute daran zu tragen haben. In den zurückliegenden Tagen ist fast untergegangen, dass der scheidende Präsident Trump mit einer seiner letzten Orders das weitere Abschmelzen des US-Kontingents am Hindukusch verfügt hat. Es verbleibt eine Restpräsenz von 2.500 Soldaten, deren Tage in Afghanistan ebenfalls gezählt sein dürften.

Notorischer Reflex

Bei allem, was man Donald Trump vorwerfen kann – es gebrach seiner America-First-Obsession an globalem Geltungsdrang. Sein Rückzug erinnerte an einen notorischen Reflex, er galt internationalen Abkommen genauso wie regionalen Konfliktherden, er resultierte aus der Lust an manischem Eigensinn, aber auch sabotierender Provokation.

Die Folgen sind nicht zu unterschätzen. Womöglich hat Trumps kategorische Weltverweigerung bewirkt, dass die Weltzustände über die USA hinweggegangen sind. Schließlich wollte die Trump-Regierung während der vergangenen Jahre ihren eigenen Orbit auskosten. Das heißt, Präsident Biden und seine Crew können sich zur globalen Zusammenarbeit bekennen, soviel sie wollen: Die multipolare Welt von heute garantiert nicht automatisch eine ebensolche Kooperation.

Die neue US-Administration wird sich arrangieren müssen: mit gewichtiger Konkurrenz (China, Russland, die EU, die Golfstaaten) sowie beschränkten Möglichkeiten. Der Einbruch in die Reservate einer globalen Wirkmächtigkeit Amerikas ist nicht unwiderruflich, aber er hat unwiderruflich stattgefunden. Es hat sich mit "America First".

China wird in seinem außenwirtschaftlichen Expansionsdrang weiterhin unbeirrbar sein und die Rivalität mit den USA dort suchen, wo es ebenbürtig oder überlegen ist. Betrachtet man allein das Vermögen, die Pandemie zu bewältigen als ein Zeichen für den Wettbewerb der Systeme, hat die Volksrepublik bewiesen, wie effizient und erfolgreich sie agieren kann, treten Herausforderungen dieses Formats auf.

Disziplinierende Wirkung

Die USA wie alle anderen westlichen Staaten haben den Nachweis labiler Krisenresistenz und damit latenter Verwundbarkeit erbracht. Es fehlt ihnen am kollektiven Willen und dem Mut zur Machtvertikale, um angemessen zu reagieren, wenn eine Naturkatastrophe wie das Corona-Desaster eine ganze Gesellschaft befällt.

Die chinesische Volkswirtschaft hat im Vorjahr als einzige Ökonomie weltweit ein Wachstum von 2,3 Prozent zustande gebracht, legt man das Bruttoinlandsprodukt zugrunde. Zum Vergleich: Deutschland muss ein Minus von 5,0 Prozent verkraften, die Weltwirtschaft insgesamt von 4,4 Prozent, besagen vorläufige Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF). Allein daraus ergibt sich für die USA kein Führungsmandat als Weltmacht, sondern eher eine disziplinierende Wirkung im machtpolitischen Zweikampf.

Antony Blinken wäre gut beraten, weniger auf die inzwischen übliche Twitter-Diplomatie zu setzen, die China in der Hongkong-, Tibet- oder Menschenrechtsfrage zu stellen glaubt. Wer sich damit versucht, stößt auf stoischen Gleichmut. China beharrt bei humanitären Fragen ebenso auf unbedingter Souveränität wie in seiner Klima- und Umweltpolitik, bei der die Volksrepublik den USA dank der vier Trump-Jahre inzwischen erkennbar überlegen ist.

Dringendes Gebot

Und auch im Verhältnis zu Russland wird die Verständigung auf Augenhöhe die allein mögliche und sinnvolle sein. Schon vor Trump, doch in seinen Präsidentenjahren erst recht, hat Moskau wieder an geopolitischem Handlungsvermögen gewonnen, um die einer Großmacht eigenen Interessen durchsetzen zu können. Russische Militärpräsenz konnte die Schlacht um Syrien vorentscheiden, russische Entschlossenheit ließ den Einbruch des Westens in der direkten Nachbarschaft (Ukraine) zumindest aufgehalten. Worauf sich die USA mutmaßlich nicht einlassen werden – als Obamas Vizepräsident hat Joe Biden die Ukrainepolitik bis zum Sturz des prorussischen Staatschef Janukowitsch im Februar 2014 maßgeblich bestimmt.

Ist auf diesem Feld weder Einkehr noch Umkehr zu erwarten, so doch vielleicht bei den Sondierungen über einen verlängerten New START-Vertrag, damit die thermonuklearen Potenziale der USA und Russlands nicht vollends außer Kontrolle geraten, nachdem schon die Abkommen über Mittelstrecken-Raketen (INF) und die Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme (ABM) ausgedient haben.

Hier tatsächlich wären globale Vormacht und Verantwortung gefragt, um der Welt mehr als nur einen Gefallen zu tun. Es käme darauf an, in den nächsten Monaten zu verhindern, dass erstmals im Nuklearzeitalter zwischen den führenden Atommächte keine bindenden Übereinkünfte mehr bestehen – erstmals seit dem SALT-1-Vertrag von 1972.

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