Leicht entflammbar

Afghanistan Die angebliche Verbrennung von Koran-Texten auf einem US-Stützpunkt hat für Aufregung gesorgt. Die ISAF-Verbände werden mehr denn je zu Gefangenen ihrer Besatzungsmacht

Der Aufruhr in der afghanischen Bevölkerung um die angebliche Verbrennung von Koran-Texten auf dem US-Stützpunkt Bagram haben ein Vorspiel. Es liegt noch nicht übermäßig lange zurück und ist auf einem Anfang des Jahres weltweit verbreiteten YouTube-Video festgehalten: US-Soldaten urinieren auf die Leichen einiger Taliban. Sie produzieren damit eine ikonografische Szene. Den Toten in ihren zerlumpten Kleidern gestehen sie keine Menschenwürde zu. Nicht allein der Vorgang an sich bringt das zum Ausdruck. Ebenso gilt dies für das Bedürfnis, die Enthemmung zu dokumentieren und als Video zu verbreiten. Die Soldaten wollten ganz offenbar zeigen, dass sie den bei einem Gefecht ausgeschalteten Gegner nicht für einen normalen Feind halten.

Die vier Infanteristen, die sich über den erstarrten Körpern entleerten, sorgten für Bilder, die in eine gut bestückte Galerie gehören: in eine Reihe mit den Leichen getöteter Vietcong, die vor Jahrzehnten von amerikanischen Schützenpanzern durch den Dschungel von Südvietnam geschleift wurden. Oder mit den fast schon choreografisch arrangierten Menschenhaufen im irakischen Gefängnis Abu ­Ghraib. Dies alles sollte vor allem eines zeigen: Schaut her, wir haben sie da, wo sie hingehören. Nämlich dort, wo jedes Mensch-Sein-Wollen lächerlich wirkt. Diese vier Soldaten führten offenbar nicht nur Krieg gegen einen Gegner. Sie führten ihre eigene Art von Kulturkampf gegen Menschen, die sie wie Barbaren behandelten. Der Ex-Präsident George W. Bush hat mit seinem Gerede vom Feldzug gegen das Böse eine giftige Atmosphäre geschaffen.

Ausbruch von Fanatismus?

Nun muss, was hinter Mauern und Stacheldraht des US-Hochsicherheitsgefängnisses am Luftwaffenstützpunkt Bagram auf afghanischem Boden geschah, nicht in eine ähnliche Richtung gehen wie diese Leichenschändung. Doch es fällt schwer, den Verdacht zu entkräften. Auch wenn nur wenige Afghanen die Sequenz mit den urinierenden Amerikanern sehen konnten – die Nachricht dürfte viele erreicht haben. Wer wollte es ihnen verargen, wenn sie überzeugt sind, dass auch ihre Religion, in deren Namen die Taliban schließlich seit Jahrzehnten kämpfen, geschändet und die Koran-Verse mit Absicht verbrannt wurden?

Die Preisgabe von Geboten und Werten der abendländischen Zivilisation hat sich in elf Jahren Besatzung zu oft wiederholt, als dass statt des Vorsatzes ein Irrtum wahrscheinlich schiene. Wo Menschen nicht wie Menschen behandelt werden, ist Verständigung ein anmaßendes Wort. Von Vertrauen ganz zu schweigen. Von Versöhnung erst recht. Nun ist die Rede vom Ausbruch eines archaischen islamischen Fanatismus, der Tausende Afghanen in den letzten Tagen fremde Militärbasen angreifen ließ. Doch die religiöse Aufwallung verdankt dieses Land mindestens ebenso den Amerikanern. Bush, sein Vizepräsident Dick Cheney und der frühere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gebärdeten sich mit ihrem Krieg gegen den Terror nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon wie christliche Kreuzfahrer.

Gewiss hat der amtierende Präsident Barack Obama diesem Messianismus nichts abgewinnen können. Für die Ereignisse in Bagram hat er sich entschuldigt. Doch am Vorgehen der US-Armee in Afghanistan hat sich seit Bushs Amtszeit wenig geändert. Obamas Soldaten setzten zuletzt auf gezieltes Töten, um die Lage in den Griff zu bekommen. Auch mit der Exekution des Al-Qaida-Führers Osama bin Laden am 1. Mai 2011 schien der US-Präsident nicht nur die Überlegenheit einer Supermacht zu zeigen, sondern er nahm sich letztlich das Recht, über dem Recht zu stehen.

Gleiches geschieht seit 2010 in den afghanischen Provinzen Helmand und Kandahar mit der von den US-Militärs favorisierten COIN-Strategie. Dabei werden keinesfalls nur Taliban-Kommandeure zu high value targets erklärt, sondern jeder, der im Verdacht des Widerstandes steht. Dieses Programm beleidigt den Moralkodex der paschtunischen Stammesgesellschaft. Es wird mit Hass quittiert. Für die USA könnte es sich obendrein als kontraproduktiv herausstellen, da es den Taliban mehr Zulauf verschafft.

Das ISAF-Oberkommando in Kabul ließ kürzlich einen internen Report zirkulieren, dessen Kernaussagen aus den Verhören von etwa 4.000 internierten Al-Qaida-Sympathisanten und normalen Strafgefangenen gefiltert wurden. Dabei, so hieß es, habe sich herausgestellt, dass bei fast allen „das Interesse an der Sache der Taliban in einem so seit 2001 nicht gekannten Maße zugenommen hat“. Es gebe Mitarbeiter des Regierungsapparates, deren Einstellungen sich genauso deuten ließen. Was heißt das für die drei Jahre, die die Besatzungsmächte noch in diesem Land bleiben wollen? Eine Antwort darauf hat Bundesverteidigungsminister Thomas de Maziere gerade mit dem vorzeitigen Abzug der Bundeswehr aus einem Stützpunkt in der Stadt Talokan gegeben: Wir fliehen, um zu bleiben, und werden mehr denn je zu Gefangenen in Afghanistan.

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