Liebe Brüder und Schwestern von drüben!

Glosse Statt des 13-Uhr-Kommentars: Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es. Wenn wir in Ost und West fleißig Stein auf Stein setzen und "Bau auf" singen, kann viel passieren

Halloween ist vorbei. Doch ein Gespenst geht weiter um. Es hat sich ins Mäntelchen der Geschichte gehüllt, das sitzt ihm etwas knapp. Es heißt Angela M. und ist regelmäßig als Geisterfahrerin unterwegs. Zu Recht fragt ihr Euch, liebe Brüder und Schwestern im Westen, aus welchem Verlies konnte das denn entkommen? Und was hilft dagegen? Kruzifixe? Holzpflöcke? Alice Schwarzer? Eine Mauer? Blicken wir, wohin alle dieser Tage ihre Augen richten – schauen wir zurück auf diesen 9. November vor 20 Jahren.

Wir wissen, liebe Brüder und Schwestern, nichts hat Euch mehr um Euch selbst gebracht als die durchsoffene Nacht damals vom 9. auf den 10. Unbemerkt vom Morgenkater hatte sich die Wühlmaus Geschichte in Euren gepflegten Vorgärten eingenistet. Da standen wir nun leibhaftig vor Euch, total durchgefroren vom Kalten Krieg und heißhungrig auf Eure Fruchtzwerge und Gummibärchen. Wir machten brav Männchen und Frauchen, wir Schafsnasen aus dem Osten, wie uns die taz launig und ungemein witzig nannte.

Bis zu dieser Nacht vor 20 Jahren habt Ihr – liebe Brüder und Schwestern – für uns manche Kerze der Nächstenliebe ins Klo-Fenster gestellt. Aber nun ging Euch ein Licht auf. Denn jetzt waren wir ja da und wollten alles teilen, was euch lieb und teuer war. Euren Kröver Nacktarsch für 1,99. Eure schnapsnasige Weltläufigkeit in Ballermann acht, Eure narzisshafte Eitelkeit. Euren Denunziationstrieb, wenn man fragte, wie ihr den Antikommunismus aus Hitlers Zeiten, ohne dass da irgendwas zu Bruch ging, mitgenommen habt beim großen Umzug in die Demokratie. (Dabei wollten wir bloß wissen, warum bei Euch alte Kommunisten wie Jürgen Trittin Minister werden und bei uns im Osten Schweine und Verbrecher bleiben.) Emsig übten wir Euer anglizistisches Imponiergehabe, spielten Brainwashing und kopierten heimlich Eure To-Do-List. Ihr ward im Kinderladen groß geworden, wir im Kindergarten. Dem mit dem Stacheldraht drum herum und der Zonen-Matrone mit BDM-Vergangenheit, versteht sich.

Als die Mauer zerpickert war, und wir nicht wussten, was sie jetzt noch spielen sollen, habt Ihr, liebe Brüder und Schwestern, schnell die Grundbücher rausgeholt und klargestellt, was Dumpfbacken alles passieren kann, wenn sie auf den Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufschlagen und dabei „Wahnsinn, Wahnsinn“ brüllen. Wo einst unsere Betriebe standen, blühen deshalb jetzt die Landschaften.

Aber die Hoffnung, heißt es, stirbt zuletzt. Wenn wir – Ost und West in Einigkeit – fleißig Stein auf Stein setzen und dabei „Bau auf, bau auf“ singen, haben wir das bald hinter uns. Aber diese Frau mit dem Watschelgang, die müsst ihr schon behalten, liebe Brüder und Schwestern. Die glaubt nicht an das Gute im Menschen, aber an das Gute im Kapitalismus. Bis ihr diesmal nicht „General Winter“, sondern ein gewisser „General Motors“ in die Watschelbeine grätscht. Wir geben Euch unser Pionierehrenwort, dass wir im Schutz des antifaschistischen Schutzwalls wieder brav auf Eure von der Steuer absetzbaren Pakete an Weihnachten (oder heißt das jetzt: unter Weihnachten?) warten. Besonders auf die Schokolade mit dem Sarotti-Mohr, die immer so toll nach Waschpulver schmeckt, weil Ihr beim Einwickeln und Einpacken so sparsam seid.

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