Lob des Zweifels

Angela Merkel Die Kanzlerin hat ein Gespräch der EU-Spitzen mit Wladimir Putin empfohlen. Entdeckt sie auf den letzten Metern realpolitischen Wagemut?
Ausgabe 26/2021
Angela Merkel beim EU-Gipfel im Mai: Allem Anschein nach hatte die Kanzlerin den Präsidenten Frankreichs als Alliierten im Rücken oder als Antreiber im Nacken
Angela Merkel beim EU-Gipfel im Mai: Allem Anschein nach hatte die Kanzlerin den Präsidenten Frankreichs als Alliierten im Rücken oder als Antreiber im Nacken

Foto: Francisco Seco/Pool/AFP/Getty Images

Hadert Angela Merkel zu guter Letzt mit dem Naturell der Bedachtsamen und Vorsichtigen, die stets auf Sicht navigiert? Wird sie plötzlich verwegen? Sollte Lust am Risiko im Spiel gewesen sein, als sie sich beim jüngsten Europäischen Rat erkühnte, den EU-Spitzen die direkte Begegnung mit dem russischen Präsidenten zu empfehlen? Unausgesprochen schien die Frage in der Luft zu liegen: Darf sich die EU nach dem Gipfel Biden – Putin nicht Gleiches gönnen? Braucht sie keine Russland-Diplomatie, die hält, was der Name verspricht? Allem Anschein nach hatte die Kanzlerin den Präsidenten Frankreichs als Alliierten im Rücken oder als Antreiber im Nacken. Emmanuel Macron hat in den vergangenen Jahren beim Ukraine-Konflikt nie allein auf das Normandie-Format vertraut und auf gesonderte Treffen mit Wladimir Putin Wert gelegt. Die gaullistische Tradition einer unabhängigen Außenpolitik wollte bedient sein.

Sollte Merkel an einen Gipfel ohne Vorbedingungen gedacht haben, könnte man ein realpolitisches Kalkül vermuten, wie es Ende 2014 Egon Bahr zu der Überlegung führte, man solle die russische Annexion der Krim zwar nicht anerkennen, aber respektieren. Schließlich sei man mit der DDR zu deren Lebzeiten ähnlich verfahren. Wie sonst hätte es ein ansehnliches Vertragswerk mit einem Staat geben können, den man nicht mochte, mit dem man aber trotzdem konnte?

Bahr erntete Unverständnis und Protest, Merkel Ablehnung und das Veto einer Mehrheit vorzugsweise osteuropäischer EU-Staaten, die sich im Ressentiment gegenüber Russland vorzüglich eingerichtet haben. Deren Regierungen schöpfen einen Teil ihrer Legitimation aus der Fiktion, dass Russland morgen einmarschiert. Die Frage, warum ihnen das jetzt als NATO-Mitgliedern widerfahren sollte und nicht 1999 oder 2002 widerfahren ist, als sie NATO-Mitglieder wurden, gilt als aggressive Propaganda, die zeigt, wie groß die Bedrohung tatsächlich ist. Merkel hat an diesem Bollwerk der Ignoranz nach Kräften mitgebaut. Sie kann nicht ernsthaft glauben, es gerade jetzt erschüttern zu können, wenn EU-Sanktionen gegen Moskau auf Vorrat und ohne Anlass beschlossen werden. Vielleicht spricht aus ihrem Vorstoß leiser Zweifel, ob man sich nun gar auf’s präventive Züchtigen verlegen sollte.

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