Kongolesen konnten Hände und Füßen abgetrennt, manchmal auch der Kopf abgeschlagen werden, wenn sie auf Plantagen, im Straßenbau oder für Bergbauunternehmen des belgischen Mutterlands nicht schnell und stramm arbeiteten. Diese Verbrechen liegen mehr als hundert Jahre zurück. Genauso lange hat das belgische Königshaus gebraucht, sie als „Gräueltaten“ zu bedauern. Der dazu vor Tagen versandte Brief von König Philippe an den kongolesischen Präsidenten Félix Tshisekedi ist allerdings weder Einsicht noch Erleuchtung geschuldet, sondern taktischer Natur. Er ging nach Kinshasa, war aber nicht minder für die Black-Lives-Matter-Bewegung im eigenen Land gedacht.
Die zu beschwichtigen und zu besänftigen schien einen Versuch wert. Denn ihr Protest bleibt materielle Gewalt nicht schuldig und schleift Denkmäler des Königs Leopold II., der die Herrlichkeit des Konquistadors soweit trieb, dass ihm um 1900 herum 2,34 Millionen Quadratkilometer Kongo – 75 Mal Belgien – als Privatbesitz gehörten.
Wer daran erinnert, den sollten Abscheu und Bestürzung übermannen. Stattdessen heroisierende Statuen zu erhalten, mit denen sich europäische Staaten bis heute großer Zeiten in Afrika vergewissern – das ist so absurd wie üblich. Will König Philippe mit der Manie brechen, Schande ohne Scham zu repräsentieren? Offenbar nicht. Sein „Bedauern“ soll ausdrücklich keine Entschuldigung sein. Würde es helfen? Wäre einem Land gedient, dem die Unmenschlichkeit des Kolonialismus so geschadet hat wie die postkoloniale Anmaßung danach? Auf der Schwelle zur Unabhängigkeit stand am 30. Juni 1960 ein junger, tatkräftiger, kompetenter, visionärer, von einer Mehrheit gewählter Ministerpräsident.
Patrice Lumumba bebte die Stimme vor Empörung, als er zur Unabhängigkeitsfeier im Beisein des damaligen belgischen Königs Baudouin ausrief: „Wir werden die Massaker nicht vergessen, in denen so viele umgekommen sind, und ebenso wenig die Zellen, in die jene geworfen wurden, die sich einem Regime der Unterdrückung und Ausbeutung nicht unterwerfen wollten.“
Historische Wahrheiten auszusprechen, kann im westlichen Kulturkreis der liberalen Toleranz bedeuten, umgehend als „Kommunist“ taxiert zu werden. So auch in diesem Fall. Das Ergebnis war ein Komplott der USA, Frankreichs, einer parteiischen UNO, kongolesischer Separatisten – und Belgiens. Das Ende war ein gefolterter, massakrierter Lumumba. Dessen Agenda einer Unabhängigkeit der Würdigen und Freien hatte seither nie wieder eine Chance. Der Kongo ist reich. Leider zu reich an Bodenschätzen, an Gold, Kupfer, Coltan, Mangan, Blei und Zink, als dass man ihm erlauben könnte, sie zu seinem Wohlergehen auszubeuten, wie das Lumumba im Sinn hatte.
Als Diplomatie verbrämte Bekenntnisse wie die des Königs Philippe können daher eine Erfolg versprechende Methode sein, historische Schuld einzugestehen, um sich ihrer zu bemächtigen. Wer über „die Wunden der Vergangenheit“ klagt, gewinnt Definitionsmacht über diese Vergangenheit. Leopold II. als royalen Übeltäter zu opfern, taugt zur kleinen Sensation, fesselt die Aufmerksamkeit und lässt verdrängen, wie Belgien mit intrigantem, kriminellem Hochmut die Souveränität des Kongo jahrzehntelang hintertrieben hat. Kein internationales Tribunal, keinen Haager Gerichtshof hat das je interessiert. Dort wurden allein kongolesische Warlords abgeurteilt.
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