Die Türkei nutzt die Chance, die NATO-Norderweiterung für sich auszunutzen

Konzessionen Präsident Erdoğan hat die Gunst der Stunde genutzt: Er kann die glänzenden Früchte seines Verzichts auf ein Veto gegen Schwedens und Finnlands Beitritt zur NATO ernten. Wie weit die beschlossenen Einigungen gehen werden, muss sich zeigen
Ausgabe 27/2022
Reich beschenkt verlässt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den NATO-Gipfel in Madrid
Reich beschenkt verlässt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan den NATO-Gipfel in Madrid

Foto: Imago/ Zuma Wire

Für die Türkei kann sich der Ertrag des jüngsten NATO-Treffens sehen lassen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan erntet körbeweise Früchte für den Verzicht auf das Veto gegen den Beitritt Schwedens und Finnlands. Er hat viel erreicht, eine robuste Exklusivität im Bündnis ausgespielt – um nicht zu sagen: ausgekostet – und aller Welt demonstriert, wie sehr die Norderweiterung von ihm abhing. Der Allianz blieb die Blamage erspart, dass die nächste Aufstockung ausgerechnet auf diesem Gipfel misslingt, mit dem der Sprung in einen epochalen Kampfmodus gegen Russland anstand.

Um Erdoğans Ausbeute im einzelnen durchzugehen: In Korb I findet sich das Last-Minute-Memorandum, das zwischen der Türkei und den NATO-Beitrittswilligen besiegelt wurde. Danach verpflichten sich die beiden Nordländer, auf ihrem Hoheitsgebiet Schritte gegen „den kurdischen Terrorismus“ zu unternehmen. Das heißt, sie sind gehalten, der Türkei im „Anti-Terror-Kampf“ gegen die kurdische Selbstbestimmung nicht wie bisher – so die Lesart in Ankara – in den Rücken zu fallen, vielmehr ein Rückhalt zu sein. Das bezieht sich nicht allein auf Südostanatolien, sondern ebenso auf den Nordirak und Nordostsyrien, sprich: nichttürkische Territorien, in denen die türkische Armee unter Bruch des Völkerrechts schon einmarschiert ist und erneut intervenieren will.

Sie hat dabei die kurdische Arbeiterpartei PKK ebenso im Visier wie die syrisch-kurdischen YPG-Milizen, denen es seit einem Jahrzehnt gelingt, die demokratische Selbstverwaltung einer Region gegen den Assad-Staat zu halten. Das Paradigmatische dieser Alternative trifft auf die zerstörerische Willkür türkischer Regionalmacht. Die NATO toleriert das. Mehr noch, sie nimmt es hin, dass ein den Rechtsbruch als Raison d’Être betrachtendes Mitglied darüber befindet, ob und unter welchen Bedingungen Neuaufnahmen stattfinden. Wann wurde der „Stärke des Rechts“ je so viel Geltung verschafft? Davon abgesehen, dass die Aspiranten aus dieser Evaluierung zu Lasten Dritter nicht unbeschadet hervorgehen.

Ob das Agreement mit Erdoğan bis zur Auslieferung von „Terrorverdächtigen“ geht, womit kurdische Migranten gemeint sind, die sich im skandinavischen Exil politisch engagieren, bestreitet Schwedens Außenministerin Ann Linde: „Wir werden keiner Auslieferung zustimmen, es sei denn, es gibt Beweise für terroristische Aktivitäten.“ Außerdem sei das Memorandum „eine politische Vereinbarung und kein rechtsverbindlicher internationaler Vertrag“. Nur wer definiert „terroristische Aktivitäten“, wenn der Türkei ein emanzipatorischer Anspruch, wie ihn die YPG-Milizen in Syrien vertreten, bereits als „terroristische Verschwörung“ gilt? Man fragt sich, ob Uiguren im westlichen Exil darauf gefasst sein müssen, ebenso behandelt zu werden wie Kurden in Schweden und Finnland.

Womit Korb II fällig ist, bei dem es sich US-Präsident Joe Biden gelegen sein ließ, ihn selbst zu packen. Seine Administration unterstützt nun doch den Verkauf von F-16-Kampfjets an Ankara. Man sei bereit, für die Modernisierung der türkischen Air Force mehr zu tun. Celeste Wallander, US-Vizeverteidigungsministerin für internationale Sicherheitsfragen, hat beim Briefing-Call mit Journalisten verkündet, je stärker die türkische Verteidigungsfähigkeit werde, desto besser sei die NATO verteidigt.

Strafe war gestern

Das ist neu – noch im Oktober 2021 konnte von solcherart Kausalität keine Rede sein, ganz im Gegenteil. Um diese Zeit hatte Ankara das Weiße Haus bereits ersucht, den Kauf von 40 F-16-Jägern und 80 Modernisierungskits für Maschinen aus US-Fabrikation durchzuwinken. Dieses Ansinnen stieß nicht das erste Mal auf Ablehnung. Begründung, die Türkei habe 2019 das russische Luftabwehrsystem S-400 erworben, sei des Tabubruchs schuldig und faktisch aus der NATO-Luftabwehr ausgestiegen. Ein sanktionswürdiges Verhalten, dass mit verweigerten Kampfjets noch gnädig geahndet werde. Ein Dreivierteljahr später hat es sich mit dem Strafen, stattdessen wird ein Junktim lanciert: Kassiert der türkische Präsident sein Veto gegen eine NATO-Norderweiterung, wird der amerikanische im Gegenzug das erwünschte Waffengeschäft absegnen. Freilich muss noch der US-Senat befragt werden. Er hat darüber zu entscheiden, ob die Zusage von Biden gegenüber Erdoğan etwas wert war oder nicht, ob der Commander in Chief im Schicksalskampf des Westens gegen den russischen Feind demontiert wird oder das Gegenteil geraten erscheint.

Bliebe Korb III, in dem Erdoğan das Mandat verstauen kann, auch mit Billigung der USA zwischen der UNO, Moskau und Kiew eine Übereinkunft zu vermitteln. Sie soll dazu führen, dass Lagerbestände ukrainischen Getreides die Häfen am Schwarzen Meer verlassen. Russland hat die Vereinten Nationen bereits wissen lassen, man werde sich den von der Türkei überwachten Plänen anschließen, 25 Millionen Tonnen Getreide in sicheren Konvois aus dem weiterhin durch die Ukraine stark verminten Hafen von Odessa zu verschiffen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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