Mehr durchgedrückt als gewählt

Juncker Die Wahl des neuen EU-Kommissionschefs war zuletzt nur noch Formsache. Das Europaparlament hat damit keine Sternstunde der Demokratie zelebriert
Ausgabe 29/2014
Jean-Claude Juncker wird auch Diener vieler Herren sein
Jean-Claude Juncker wird auch Diener vieler Herren sein

Foto: AFP

Wer weise ist, kennt die eigenen Wert und vermeidet es, ihn prahlerisch oder auf Selbstdarstellung bedacht zu zeigen. Insofern war das Europaparlament (EP) gut beraten, die Wahl von Jean-Claude Juncker an die EU-Kommissionsspitze routiniert abzuwickeln und keine Sternstunde der Demokratie auszurufen. Nicht schon am Anfang einen politischen Normal- zum parlamentarischen Idealzustand verklären.

Den gäbe es, wäre die Kammer entschlossen, in der fünfjährigen Legislatur, wenigstens ein Minimum dessen an Demokratie zurückzugewinnen, was mit der Eurokrise verloren ging. Die Parlamentarier hätten schon viel getan, würden sie auf den in sämtlichen EU-Verträgen verankerten sozialen Rechten der EU-Bürger beharren, statt diese weiter zu beschneiden. Sie würden Unglaubliches leisten, besäßen sie den Mut, klar zu sagen, diese Rechte stehen über den Interessen von Besitzer staatlicher Schuldverschreibungen, wie Banken, Kapital- und Investmentfonds. Sie wüchsen über sich hinaus mit der Erklärung, die Erpressung von Staaten zu Sozialdumping und Spardogmen ist kein Kavaliersdelikt – damit büßen Millionen Menschen für ein autokratisches Finanzsystemen, Fehlentscheidungen ihrer Regierungen und die Sanierung maroder Banken, auch auf Kosten der Steuerzahler.

Übergroße Koalition

Dieses Parlament erhebt es lieber zum demokratischen Reifetest, dass ein Wahlversprechen eingehalten wird. Was zu begrüßen wäre, blieb dieses Ansinnen nicht auf die Personalie Juncker beschränkt, zumal Luxemburgs Ex-Premier von einer übergroßen Koalition aus Europäischer Volkspartei, Sozialdemokraten und Liberalen mehr durchgesetzt als gewählt wurde – die ihm am 15. Juli zugefallenen 422 Stimmen zeigen es. Diese Fusion des Labels „Der und sonst keiner“ ist eher taktischer Natur, weniger ein Akt demokratischer Willensbildung. An der Personalie Juncker hängt schließlich ein ganzes Personaltableau, nicht zuletzt die Rückkehr von Martin Schulz an die Parlamentsspitze oder die Vorentscheidung, dass designierte EU-Kommissare wie Pierre Moscovici aus Frankreich und der EU-skeptische Brite Jonathan Hillwirklich ins Amt kommen.

Derartige Arrangement stehen von jeher im Geruch, damit den Interessen der großen Parteienfamilien im EP wie den Kernstaaten in der EU in einem Maße Geltung zu verschaffen, wie das dem Ergebnis der Europawahl kaum angemessen ist. Schon gar nicht der Wahlbeteiligung von lediglich 43 Prozent. Überwiegt bei einer Personalfrage das Pragmatische kommt in der Regel das Programmatische zu kurz. Das aber sollte doch wohl interessieren, wenn es um den Chef einer EU-Exekutive geht, die immerhin für 28 Staaten eines ganzen Subkontinents wie der EU zuständig ist. Da erscheint es angebracht, die Europa-Ikone Juncker ihres Heiligenscheins zu entkleiden und danach zu fragen, ob und – wenn ja – wie dieser Kommissionschef darauf zu reagieren gedenkt, von den Regierungen in London und Budapest verschmäht worden zu sein.

Rücksicht auf die Briten

Vermutlich will Juncker kein Gremium führen, die sich als Turbo versteht, um einen denkbaren EU-Ausstieg Großbritanniens zu beschleunigen. Was er entscheidet, wird vom Blick auf das unvermeidliche EU-Plebiszit auf der Insel beeinflusst, aber keinesfalls auf Selbstverleugnung hinauslaufen. Als Chef der Eurogruppe hat Juncker nicht eben viel getan, das Primat der Politik gegenüber den Finanzmärkten durchzusetzen. Er steht für das Muster Austerität zur Bewältigung der Eurokrise und wird erst noch beweisen müssen, ob er das durch Programme wie gegen die Jugendarbeitslosigkeit relativieren kann.

Zumindest in gleicht er Britanniens Premier David Cameron. Das dürften all jene EU-Parlamentarier gewusst haben, die Juncker ihre Stimme gaben.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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