Was der dritten Regierung Merkel bereits an Missbilligung und Misstrauen um die Ohren fliegt, bevor sie nur einen Tag ihres Amtes waltet, ist nicht weiter überraschend, aber erstaunlich schon. Etwas mehr Maß beim Mecken wäre angebracht, solange die urteilsmächtige Kritik noch keinen schweren Verstoß gegen den Koalitionsvertrag ahnden muss. Was ja ohnehin nur medial passiert und politisch oft irrelevant bleibt.
Wer diesem Kabinett schon jetzt unterstellt, von einer „Koalition des Stillstands“ getragen zu sein, läuft Gefahr, sich von der Lebensrealitäten vieler Mitbürger zu entfernen, die jeden Tag einer Arbeitswelt genügen müssen, die ihnen nichts schenkt und sie nie privilegiert hat. Millionen werden es vermutlich als Fortschritt, nicht als Stillstand, verbuchen, sich künftig nach 45 Versicherungsjahren mit 63 in den Ruhestand verabschieden zu dürfen. Diese Option korrigiert ein neoliberal gefärbtes Rentenrecht, wie es zunächst durch Rot-Grün und dann durch Angela Merkels erste große Koalition (2005 - 2009) etabliert wurde. Sie rückt die erbrachte Lebensleistung wieder mehr in den Blick und relativiert den Zwang, mit der eigenen sozialen Existenz „die Gesellschaft“ und „nachwachsende Generationen“ möglichst wenig, am besten gar nicht zu belasten. Es wird in dieser Hinsicht sicher keinen Mentalitätswandel geben, aber dem Trend begegnet, Erwerbsbiografien allein als Anhäufung von Versorgungsansprüchen zu deuten, die beschnitten gehören.
Sollte die Regierung Merkel die Rente mit 63 zum Gesetz erheben, wird das auch Einfluss auf die EU, besonders die Eurozone, haben. Deutschland kann seine Austeritätsdogmen dann nicht mehr wie bisher unter Verweis auf das eigene Beispiel durchdrücken, zumal in den kommenden Jahren Rücksichten auf den Partner Frankreich fällig werden wie nie zuvor, seit die EG zur EU mutierte. Präsident Hollande hat die Rente mit 62 verteidigt – allen Erwartungen der EU-Kommission und jedem Negativ-Ranking an den Finanzmärkten zum Trotz.
Bloß keine Experimente
Was man Angela Merkel über dieses vorsichtige Umsteuern hinaus anrechnen sollte, das ist ihr Vermögen die politische Kultur des Berliner Republik zu entkrampfen. Das hat nicht nur die kühle Regie bei der Koalitionsanbahnung gezeigt, es äußert sich ebenso im Umgang mit der Linkspartei und ihren Spitzen. Noch ist es nicht übermäßig lange her, dass CDU-Kanzler PDS-Politiker als „rotlackierte Faschisten“ schmähten und CDU-Generalsekretäre verunglimpfende Rote-Socken-Kampagnen ausriefen.
Als Reinhard Höppner, der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, 1994 eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen von der PDS tolerieren ließ, schien der Untergang des Abendlandes gewiss, schenkte man Prophetien aus der damaligen CDU-Führung Glauben.
Merkel hat mit ihrem unerschütterlichen Pragmatismus den Hang zu Ausgrenzung und Hysterie eingedämmt, weil ihr Entideologisierung beim konsenswilligen Umgang mit einer Gesellschaft der Mitte und des Maßes von größerem Nutzen ist als der „innere Feind“. Schließlich will sie weder Herzen noch Hirne ansprechen, sondern das nachvollziehbare, „gesunde“ Bedürfnis artikulieren: Es möge im Großen und Ganzen alles so bleiben, wie es ist. Jetzt nicht daran rütteln, später vielleicht, wenn die Eurokrise überstanden ist und nicht mehr zum Zuchtmeister taugt, der mehr als die zaghafte Korrektur einer Arbeitsbiografien entwertenden Rentenreform verbietet.
Gregor Gysi findet zu recht, es gäbe momentan keine Wendestimmung. Wozu dann einen Politikwechsel anstreben? Die jetzige große Koalition ist dem Zeitgeist dermaßen auf den Leib geschneidert, dass der sich bestens bedient und eingeschnürt fühlen kann. Bloß keine Experimente, kein Risiko, keinen Mut, sich schlagendem sozialen Unrecht entgegenzustellen, vielleicht gar organisiert. Occupy verkörpert eine Minderheit versprengter Idealisten, die sich medial größer darstellen lassen als sie sind. Was wieder einmal den späten Peter Hacks bestätigt: Wir brauchen keine Zensur, wir haben Medien.
Um die gesellschaftliche Genügsamkeit, in der wir leben, zu verdeutlichen, sei darauf verwiesen: Der Mindestlohn wurde nicht erkämpft – er wird gewährt als Gnadenakt präventiver Wohltätigkeit, damit die Dinge nicht zu sehr aus dem Ruder und ins Prekäre laufen und zugleich etwas für die Binnennachfrage getan werden kann. Derartige Gunstbeweis an Bedürftige kennt man aus absolutistischen oder spätfeudalen Ordnungen wie dem Deutschen Kaiserreich, das sich mit Bismarcks Sozialpolitik nicht lumpen ließ.
Freudig drängt den Weisen
Wie wenig heute eine bessere, sondern nur eine angenehmere Welt gewünscht wird, offenbart der herrschende Zeitgeist bei den 25- bis 35-Jährigen. Gemeint sind die „jungen Milden“, auch "Generation Y" genannt, die sich um liebsten um sich selbst kümmern, wenn sie nicht gerade „genervt“ sind. Richtige Ernährung, Mülltrennung, kritischer Konsum und Kindererziehung, bei der soziale Privilegien nicht zu kurz kommen, das sind die sakralen Figuren dieses postheroischen Daseins. Auch dieses Milieus des unbedingten oder auch unreflektierten Hedonismus findet sich mit Angela Merkel bestens bedient.
Der chinesische Philosoph Laudse hielt vor 2.500 Jahren diejenigen Weisen für die besten Politiker, die dem Volk durch ihre Utopien keine Last seien und so nicht zum Schaden des Volkes wirkten. „Freudig drängt den Weisen die Welt nach vorn und keiner murrt, da er mit keinem streitet, bleibt er unbestritten Sieger.“ (Daudedsching, Kapitel 66).
Unter solchen Verhältnissen munter durchregieren zu können, das ist mehr wert als jeder Koalitionsvertrag.
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