Als 2005 eine Europäische Verfassung an Teilen des europäischen Volkes scheiterte, schien es so, als wollte sich die EU auf ihre Anfänge besinnen und mit einem Dasein als Freihandelszone begnügen. Der Politischen Union fehlte es ohne Verfassung am geistigen Überbau. Sie erinnerte fortan mehr an verbale Hochstapelei als eine realistische Zustandsbeschreibung. Der Gedanke an Harmonie und weltpolitischen Geltungswillen eines europäischen Staaten-bundes war zu groß, um wahr zu sein. Die Visionäre ergaben sich der Lage und den Kanzlisten, die das Geschäft am Laufen hielten.
Wie das geschieht, hat gerade der Brüsseler EU-Gipfel vorgeführt. Damit die Iren im Herbst bei einem erneuten Referendum dem Lissabonner Vertrag keinen Gnadenstoß versetzen, sondern Absolution erteilen, werden sie mit Sonderkonditionen gesalbt. Das auf der Insel geltende Abtreibungsverbot soll ebenso unangetastet bleiben wie die nationale Steuerpolitik und militärische Neutralität. Womit die europäische Verteidigungsidentität ohne Irland auskommen muss. Ein Präzedenzfall liegt in der Luft, der bei den Vertragsskeptikern in Prag und Warschau nicht anfallartiges Entzücken auslösen dürfte. Völlig zu Recht erkennt der tschechische Präsident Klaus, das sich mit der Gültigkeit für einzelne Mitglieder auch der Vertrag als solcher verändert. Der Europäische Rat in Brüssel hat das gleichfalls einräumen müssen, wenn auch indirekt. Der Irland-Passus soll dem Reform-Vertrag als Protokoll beigefügt werden, das theoretisch von allen EU-Staaten nochmals ratifiziert werden müsste. Allein für die britischen Konservativen wäre das eine willkommene Vorlage, um sich gegen die marode Labour-Regierung in Szene zu setzen und ihr Verlangen zu erneuern, über das gesamte Vertragswerk ein Referendum entscheiden zu lassen. Aber dazu soll und muss es nicht kommen, befanden die EU-Spitzen. Wenn demnächst Kroatien die EU- Weihen erhält, soll der Irland-Appendix dem dann sowieso zu ergänzenden Lissabon-Vertrag einverleibt werden. Die EU zügelt die Angst vor einem weiteren Nachweis ihrer Reformunfähigkeit durch einen Ausflug in eine rechtliche Grauzone. Es gilt die Devise: Nach dem Verfassungsdebakel von 2005 darf der Reformvertrag nicht scheitern, koste es, was es wolle. Bei einem solchen Vorsatz bleibt denn auch die Kraft der Kollektivs den schwer Erziehbaren nichts schuldig: für Polen und Tschechen Ermahnung und Strenge, für die Iren Streicheleinheiten und Zucker. Wie der Fall Irland zeigt, leistet sich die EU ihre erste privilegierte Partnerschaft. Man muss also gar nicht auf die abschließende Erledigung des Beitrittsfalls Türkei oder andere Gelegenheiten warten. Aus dem einst prophezeiten Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten ist eines der Auswege und Notlösungen geworden. Der Lissabon-Vertrag – sollte er denn zum Jahresende tatsächlich noch existieren und in Kraft treten können – wird daran nicht viel ändern.
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