Merkels Musterkoffer

Türkei Die EU verlegt wegen der Flüchtlingskrise ihre Außengrenzen vorübergehend in sein Land. Deshalb erfährt Präsident Erdogan europäische Gunstbeweise wie seit langem nicht
Ausgabe 43/2015
Merkel mit dem türkischen Premier Ahmet Davutoglu in Istanbul
Merkel mit dem türkischen Premier Ahmet Davutoglu in Istanbul

Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/Getty Images

Sie konnte sich treu bleiben. Angela Merkel beherrscht den Umgang mit der Türkei Tayyip Erdoğans perfekt. Es gibt dafür ein eingespieltes Verhaltensmuster. Auf Abstand halten, aber Arrangements treffen. Pragmatisch sein und nicht übertrieben prinzipienfest. Das Land taugt seit einem Jahrzehnt zum Paradigma, um deutscher Abschottung gegenüber den europäischen Ambitionen eines Außenseiters zu genügen. Was im Klartext hieß: Wir lassen uns nicht auf jede Erweiterung der EU ein. Wir können nicht nur, wir sollten diesen Aspiranten in der Warteschleife parken. Die Türkei entstammt einem anderen Kulturkreis, sie verschafft der EU direkte Grenzen mit Konfliktzonen im Nahen Osten (Irak, Syrien, Iran) und im postsowjetischen Raum (Armenien, Georgien). Durch ihr autoritäres Staatswesen wird unser Wertekanon unnötig auf die Probe gestellt und versagt womöglich. Wozu also? Ankara verdient bestenfalls eine privilegierte Partnerschaft.

Dass es bei einem Beitrittsprozess ohne Beitrittsperspektive keinen Anstoß gibt, türkische Regierungen zu animieren, ihren Staat zu humanisieren, interessierte nicht weiter.

So konnte sich die AKP zur Staatspartei aufschwingen und ihren politisierten Islam zur Staatsdoktrin ausrufen. Demokratie, Bürger- und Minderheitenrechte, Gerichte, die der Bürokratie Zügel anlegen und nicht gezügelt werden, eine Polizei, die nicht foltert – die AKP und Tayyip Erdoğan fanden dafür keine Verwendung. Besonders für die CDU/CSU in Deutschland hatte das den Effekt einer self-fulfilling prophecy. Seht her, sie passen nicht zu uns. Wir haben es doch immer gewusst.

Im Augenblick wird auf diese Umgangsform zurückgegriffen. Die Türkei ist als Torwächter gefragt. Zur Flüchtlingsabwehr will die EU ihre Außengrenzen an die türkisch-syrische wie türkisch-irakische Grenze verlegen. Dazu wird vor allem Tayyip Erdoğan gebraucht, der es auskostet, dass europäische Gunstbeweise (weitgehende Visafreiheit, Hilfsgelder) durch eine deutsche Emissärin überbracht werden, die das – wie gehabt – pragmatisch, nicht übertrieben prinzipienfest handhabt. Denn es interessiert wieder nicht, ob die AKP-Regierung vor dem Parlamentsvotum am 1. November einen fairen und demokratischen Wahlkampf erlaubt. Es stört noch nicht einmal, dass Erdoğan durch seine Kurdenpolitik einen Teil des Landes an den Rand eines Bürgerkrieges treibt, damit er sich national gesinnten Bürgern als Ordnungsmacht empfehlen kann. Angela Merkel hatte bei ihrem jüngsten Besuch noch nicht einmal Zeit, mit gemäßigten Oppositionellen aus der Republikanischen Volkspartei (CHP) zu reden. Warum auch?

Sie will ja Ankara nach wie vor nicht als EU-Mitglied, sondern lediglich als EU-Dienstleister verpflichten. Folglich blieb ihr Mandat als Wahlhelferin auf die AKP beschränkt. Es sollte in Deutschland ankommen: Die maßgeblichen Partner heißen Erdoğan und Premierminister Davutoğlu. Wer sie nicht verärgert, dem wird geholfen, den Flüchtlingsdruck zu mindern.

Das könnte als Realpolitik durchgehen, wäre nicht Irreführung im Spiel. Die Erdoğan-Regierung nimmt nicht nur Flüchtlinge auf, sondern sorgt auch dafür, dass es sie gibt. Durch eine Kollaboration mit dem IS ebenso wie durch den Krieg gegen die PKK und deren kurdische Verbündete in Syrien. Wird dadurch niemand in die Flucht getrieben? Kein Lebensraum zerstört? Mit Merkels Musterkoffer wird sich das kaum ändern lassen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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