Nur als alternatives System kann die DDR auf Bestand hoffen
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Erich Honecker und Michail Gorbatschow reden am Vormittag des 7. Oktober 1989 ein letztes Mal miteinander und mehr denn je aneinander vorbei. Das Treffen mit der sowjetischen Delegation zum 40. DDR-Jubiläum im Ostberliner Schloss Schönhausen wird zum Abgesang auf Jahrzehnte als brüderlich beschworener, häufig einvernehmlicher, nie störungsfreier Beziehungen zwischen engen Verbündeten. Dabei ließ es die DDR weniger an Loyalität fehlen als Moskau an patriarchalischer Attitüde.
Die 1974 novellierte DDR-Verfassung band den zweiten deutschen Staat „für immer und unwiderruflich“ an die UdSSR. Sie schien allzeit dafür zu bürgen, dass die „deutsche Frage“ erledigt war. Zwei deutsche Staaten, zwei Systeme, zwei Bl
zwei Blöcke – wer konnte daran rütteln? Ungeachtet dessen hielt Honecker den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 für einen Fehler und nannte sowjetische SS-23-Raketen, die Mitte der 1980er als Reaktion auf die atomare Nachrüstung der NATO in der DDR stationiert wurden, „ein Teufelszeug“, das beide deutsche Staaten bedrohe. Und er nahm hin, dass eine hochmotivierte DDR-Olympia-Equipe 1984 in Los Angeles absagen musste, weil sich die Sowjetunion für den westlichen Boykott von Olympia 1980 in Moskau revanchieren wollte.Noch nie jedoch war das Verhältnis derart belastet, fast schon zerrüttet, wie im Herbst 1989. Die DDR driftete in eine tödliche Krise – durch die Flucht so vieler junger Bürger, die ökonomischen Defizite, doch ebenso das Gefühl, von einer Sowjetunion abgeschrieben worden zu sein, die mit Gorbatschows Reformwerk eher einem Systemwechsel als erneuertem Sozialismus entgegentrieb und auf Augenhöhe mit den USA den Kalten Krieg abstreifen wollte.Salz und StreichhölzerAn jenem 7. Oktober wendet sich Gorbatschow an das gesamte SED-Politbüro, das mit Honecker erscheint, spricht aber ausschließlich über den schwierigen Zustand der sowjetischen Gesellschaft. Wie sehr die DDR mit dem Rücken zur Wand steht, klingt nicht einmal an. Seit knapp einem Jahr gilt die „Gorbatschow-Doktrin“, wonach jedes sozialistische Land für sich allein verantwortlich ist. Es soll keine Situation wie am 17. Juni 1953 in der DDR oder am 21. August 1968 in der ČSSR mehr geben, als sowjetische Streitkräfte Machtfragen klärten. In einer Rede vor der UN-Vollversammlung am 7. Dezember 1988 hat Gorbatschow angedeutet, sein Land gedenke, sich aus Mittel- und Osteuropa zurückzuziehen. Der Wortlaut dieses Statements wird den Verbündeten eine Stunde vor dem Auftritt in New York übermittelt. Was sollen sie tun – frohlocken, abwarten, standhalten bis zum Jüngsten Gericht?Im Schloss Niederschönhausen hat dann Erich Honecker das Wort, es folgen Elogen auf die DDR, die es sich als Erfolg anrechne, mit dem Vier-Megabit-Chip in das Zeitalter der Mikroelektronik eingetreten zu sein. Wenn die Serienfertigung anlaufe, sei Gorbatschow herzlich eingeladen. Dann wird ein Trip nach Magnitogorsk reflektiert, der Honecker kurz zuvor an eine Zeit erinnern sollte, in der er 1931 zusammen mit anderen deutschen Kommunisten am Stahlgiganten „Magnitka“ mitbauen durfte. Bei seinem jetzigen Besuch, erzählt er, habe ihn die Stadtverwaltung zu einer Exkursion bitten wollen, er habe das ausgeschlagen. Als die ihn begleitenden Genossen zurückkamen, hätten sie ihm berichtet, „dass in den Läden sogar Salz und Streichhölzer fehlen“. Ein Affront, Gorbatschow wird bescheinigt, was seine Perestroika angerichtet hat. Das Gespräch ist bald vorbei, der Gast bricht mit seiner Entourage zum Spaziergang durch den Schlosspark auf.Ist Honecker von masochistischem Wahn befallen? Die DDR ist ohne die UdSSR undenkbar. Seit ihrer Gründung 1949 kann sie im Ranking Moskaus einen exponierten, freilich nie unangefochtenen Stellenwert beanspruchen. Sie wird zu einem Teil des sowjetischen Sicherheitsglacis, was naheliegt, denn noch nie gab es einen solchen Vorposten mitten in Europa. Ein unschätzbarer geopolitischer und psychologischer Vorteil, um das Trauma des 22. Juni 1941 zu bewältigen – die Erfahrung brutaler Verwundbarkeit, als sich die weiten Ebenen Polens und Weißrusslands als ideale Rollbahn für einen Angreifer erwiesen, der eine hohe operative Schlagkraft besitzt. Im Nachkriegseuropa sowjetische Verbände in Polen, vor allem der DDR zu stationieren, heißt daher, einen Abwehrriegel zu unterhalten und einer Militärdoktrin zu folgen, deren Maxime lautet: potenzielle Angreifer auf ihrem Territorium bekämpfen, sie gar nicht erst auf das eigene vordringen lassen. Solange das gilt, ist die DDR ein wertvoller Alliierter, auch wenn sie kaum adäquat behandelt wird.Sie muss bis 1953 allein für sämtliche deutsche Reparationen gegenüber der Sowjetunion aufkommen, was ihrer Ökonomie in einem Moment zusetzt, in dem der andere deutsche Staat den Aufschwung ins Schaufenster zum Osten stellt. Wie sehr man in Moskau Deutschland-Politik an eigenen Interessen misst, offenbart die Stalin-Note vom 10. März 1952. Die DDR existiert bereits zweieinhalb Jahre, da ergeht an die Westmächte das Angebot, zum deutschen Einheitsstaat zurückzukehren, sofern der durch Garantien der vier Siegermächte von 1945 auf Neutralität und Paktfreiheit verpflichtet sei. Auch das eine Option dafür, sich des Schutzes zu versichern, wie er durch den Juni 1941 geboten erscheint, dazu weniger konfrontativ und kostspielig als das Blockmodell mit der DDR. Doch Kanzler Konrad Adenauer verwirft Stalins Offerte, auch die Westmächte winken ab – die DDR kann aufatmen. Hätte sie sich frühzeitig verabschieden müssen?Allen Beistandsverträgen zum Trotz bleibt es ihr nie erspart, dass in Moskau die Frage knistert, ob man sich einen so treuen wie teuren Partner auf Dauer leisten kann. Seit 1986/87 sei das auch unter Gorbatschow diskutiert worden, schreibt Walentin Falin, 1971 – 1978 Sowjetbotschafter in Bonn, in seinen Memoiren. Wie die Zeichen stehen, hat Ostberlin bereits 1982 erfahren, als Gesandter Konstantin Russakow unter Tränen – wie Augenzeugen versichern – die Botschaft überbringt, dass der DDR-Bezug von 19 Millionen Tonnen Erdöl pro Jahr um zwei Millionen gekürzt werden müsse. Der Emissär bemüht ein Gleichnis: Brest-Litowsk 1918, als Sowjetrussland einen Raubvertrag mit dem Deutschen Reich hinnehmen muss, um zu überleben. Steht man erneut so unter Druck?Souveränität und SelbsterhaltDie DDR-Führung jedenfalls ist gut beraten, über Selbsterhalt durch Souveränität nachzudenken und bei aller Ostbindung eine Westpolitik anzugehen, die Vorsorge für den Notfall trifft. Vertragsdiplomatie mit der Bundesrepublik soll helfen, eine kleine Bresche in die bleischwere Abhängigkeit von der Sowjetunion zu schlagen. Nur scheitert etwa ein Honecker-Besuch in Bonn jahrelang am Veto aus Moskau. 1984 interveniert Kurzzeit-Generalsekretär Konstantin Tschernenko, und im April 1986 hört Honecker von Gorbatschow, als der am XI. SED-Parteitag teilnimmt, er solle erst reisen, wenn der neue KPdSU-Chef zum Antrittsbesuch am Rhein war.Die Entfremdung beginnt lange vor der Perestroika und vor dem Ressentiment im SED-Politbüro, sich für reformerischen Umbau zu erwärmen. Dabei steht zweierlei außer Frage: Nur als Systemalternative kann die DDR als eigenständiger deutscher Staat auf Bestand hoffen, und mit ihrem Ausfall wäre es auch um den Warschauer Pakt als Bündnis geschehen. Letztlich vollendet Gorbatschow, was im Verhältnis UdSSR/DDR seit jeher angelegt ist: die Preisgabe eines Alliierten, der nicht länger zu halten war und gehalten werden sollte. Ob Gorbatschow 1990 an eine realistische Kompensation glaubte und davon ausging, eigenen Sicherheitsbedürfnissen durch eine neue kollektive Ordnung in Europa gerecht zu werden, ist kaum mehr zu klären.