Mursis Macht

Ägypten Der Präsident in Kairo nutzt die Gunst der Stunde zum innenpolitischen Machtausbau. Das ändert nichts daran: Für den Westen bleibt er momentan unverzichtbar
Mursi Ende September während der UN-Generalversammlung in New York
Mursi Ende September während der UN-Generalversammlung in New York

Foto: Spencer Platt/Getty Images

Wenn es zutrifft, dass ohne Mohammed Mursi keine Waffenruhe zwischen Palästinensern und Israelis zustande gekommen wäre – dann gilt erst recht, dass deren Bestand ebenfalls vom ägyptischen Präsidenten abhängt. Was bisher kaum kolportiert wurde: Die Israelis sahen sich veranlasst oder gezwungen, in der Waffenstillstands-Vereinbarung überraschende Zugeständnisse zu machen. So sollen Blockade und Isolation des Gazastreifens gelockert werden. Künftig wird Israel auf die gezielte Tötung palästinensischer Funktionäre und Kommandeure verzichten. Zudem soll in der Nähe des Grenzzauns vorsichtiger agiert werden, um Zusammenstöße, vor allem jedoch Verletzungen oder den Tod unbeteiligter Zivilisten zu vermeiden.

Davids Schleuder

Mit einem Wort, es soll vieles von dem unterbunden bleiben, was zum Auslöser eines erneuten Schlagabtauschs werden kann. Seit dem Gaza-Abzug der Israelis 2005 gab es derartige Konzessionen noch nie. Sie spiegeln eine veränderte strategische Balance zwischen den Konfliktparteien. Deren Kräfteverhältnis hat etwas mit dem zu tun, was während der vergangenen Woche zu beobachten war. Nicht nur südisraelische Grenzorte können von Raketen aus dem Gazastreifen getroffen werden. Auch israelisches Kernland – sprich: Tel Aviv und Jerusalem – gehört offenkundig zum erreichbaren Zielgebiet.

Man kann sich dagegen schützen, doch gibt es den absoluten Schutz? So effektiv das Abwehrsystem – "Davids Schleuder" genannt – auch immer sein mag, es bleiben Restposten an Verwundbarkeit. Und die reichen. Deren politische Relevanz ist für die Hamas-Führung enorm. Sie kann der israelischen Armee nie ein ebenbürtiger Gegner sein, verfügt nun aber über ein militärisches Potenzial, um von Israel ein nächstes Zugeständnis zu erwirken: Nicht länger als Terroristen-Verein geächtet, sondern als Gegenspieler respektiert zu werden. Das würde bedeuten, sich mit der Hamas politisch auseinander zu setzen und die Konflikte am Verhandlungstisch auszutragen. Damit es zu diesem Durchbruch kommt, dürfen keine palästinensischen Raketen mehr in Richtung Israel fliegen. Nur wenn das garantiert wird, kann eine israelische Regierung – zumal die von Benjamin Netanjahu – ihre Verhältnis zur Hamas „normalisieren“.

Dass eine solche Option besteht, dafür bürgt wie kein anderer Mohammed Mursi. Er besitzt das Vertrauen der Hamas-Führung, was mit der gemeinsamen Herkunft aus der Muslim-Bruderschaft und den gleichen ideologischen Wurzeln zu tun haben dürfte. Ganz sicher teilen beide die Überzeugung, dass der Arabische Frühling auch den Palästinensern zugute kommen soll – und kann, wenn die jetzige ägyptische Führung dafür sorgt.

Personifizierte Garantie

Mohammed Mursi ist damit zur personifizierten Garantiemacht aufgestiegen. Er garantiert den Palästinenser, sie von ihrer Ohnmacht gegenüber den Israelis zu erlösen. Er garantiert den Israelis, mit dem Gazastreifen in einer fragilen, aber entwicklungsfähigen Koexistenz zu leben. Er garantiert den USA, dass die Bäume des Iran im Palästina-Konflikt nicht in den Himmel schießen. Er garantiert dem Westen überhaupt, dass Israels Existenzrecht nicht angetastet wird, weil Ägypten der 1978 mit dem Camp-David-Vertrag eingeleiteten Pazifizierung der Beziehungen mit dem jüdischen Staat verpflichtet bleibt.

Wenn Mursi das leistet, kann er sich innenpolitisch viel, wenn nicht alles leisten. Er ist für die USA im Augenblick ebenso wichtig, wenn nicht gar wichtiger als einst der 2011 gestürzte Diktator Hosni Mubarak. Präsident Mursi entscheidet maßgeblich darüber, wie viel Arabischer Frühling in einen Islamischen Herbst mündet und die Machttektonik in einer sensiblen Weltregion vollends erschüttert. In der Politik ist Moral nun einmal eine taktische Größe, die man im Bedarfsfall bei der Hand haben sollte. Auf die man aber auch sehr gut verzichten kann.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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