Wer Zwist sät, kann Blut ernten. Das ist für die EU keine neue Erfahrung. Man erinnere sich ihres zwielichtigen Agierens während des jugoslawischen Bürgerkrieges in den neunziger Jahren. Seinerzeit wurde durch die schnelle Anerkennung der ihre Unabhängigkeit ausrufenden Teilrepubliken Slowenien und Kroatien der Konflikt eher angeheizt als eingedämmt. Wer Grenzen und Staaten verändern wollte, der sorgte für Feindschaften und Fronten.
Die Neuordnung Jugoslawiens war auf allen Seiten von derart existenziellen Interessen überlagert, dass es keinen friedlichen Abschied vom Status quo geben konnte. Damals schon goss Öl ins Feuer, wer die einen mit der „europäischen Perspektive“ segnete und die anderen – vor allem Serbien – als unwürdige Outlaws verdammte. Dass der Westen nach dem schnellen Sieg von 1990 auch die schnelle Ernte einfahren und Osteuropa an sich binden wollte, erschien nachvollziehbar. Da jedoch dieses Begehren nicht irgendwo, sondern auf einem Kontinent ausgelebt wurde, den eben noch Blöcke und Gräben trennten, wurde die schnelle teilweise zur blutigen Ernte.
Es hat nicht nur den Anschein – es wird durch die dramatische Ereignisse in Kiew endgültig zur Gewissheit, dass eine auf die Ukraine gemünzte „Östliche Partnerschaft“ der EU auf einen ähnlich fatalen Ertrag hinausläuft. Sie gilt einem Staat, der seit seiner Gründung stets ein fragiles Geschöpf blieb. Das heißt, wer sich der Ukraine annimmt, muss es ernst meinen und viel Verantwortung übernehmen. Der darf nicht pokern, indem er die Tatsache ignoriert, dass es sich um ein zwischen West und Ost zerrissenes Land handelt. Der muss wissen, dass Russland die Ukraine als einen Partner betrachtet, von dem seine geopolitische Position in Europa abhängt.
Pragmatische Ambivalenz
Das gescheiterte EU-Assoziierungsabkommen enthielt keine EU-Beitrittsperspektive. Wofür es mehrere Gründe gab. Die entscheidenden allerdings resultierten aus dem Unbehagen über einen ökonomischen Ballast, den man sich mit einem fast bankrotten Staat auflädt, und der Angst vor einem schweren, weltpolitische Blockaden auslösenden Zerwürfnis mit Russland.
Diese pragmatische Ambivalenz ist nicht neu. Es gab sie schon, als nach der Orangenen Revolution (2004) in Kiew Leute regierten, denen man sich in Brüssel oder Berlin sehr viel näher fühlte als in Moskau. Doch nicht einmal Präsident Viktor Juschtschenko und Premierministerin Julia Timoschenko durften es sich auf dem europäischen Schoß bequem machen. In der EU sorgte man für Annäherung und Abstand.
Warum blieb es nicht dabei, als die Regierung Janukowitsch das Assoziierungsabkommen stornierte? Weshalb erlag man stattdessen der Versuchung, die Ukraine in eine Zerreißprobe zu treiben, bei der sich entscheiden sollte, wohin das Land gehörte – in den Westen oder an die Seite Russlands? Musste im Anti-Janukowitsch-Lager der Eindruck erweckt werden, die EU fühle sich plötzlich berufen, eine rote Linie zu überschreiten, die Neuordnung des postsowjetischen Raumes zu betreiben und dabei gar mit ultranationalistischen Kräften zu paktieren? Wozu das führt, zeigen die Toten von Kiew. Sicher, Europa hat sie nicht direkt verschuldet, aber mit zu verantworten auf jeden Fall.
Mit leeren Händen
Die Eskalation in Kiew wird am Tag danach in Berlin und Brüssel mit erstaunlicher Zurückhaltung quittiert, offenbar dem Bedürfnis geschuldet, die Dinge jetzt nicht weiter auf die Spitze zu treiben. Angela Merkel schickte zu Wochenbeginn die Oppositionspolitiker Arseni Jazenjuk und Vitali Klitschko mit leeren Händen von Berlin nach Kiew zurück. Weder konnte sie sich für Sanktionen noch eine finanzielle Unterstützung erwärmen, die der Ukraine wirksam hilft. Jazenjuk und Klitschko mussten sich auf verlorenem Posten fühlen – und riskierten dann mehr, als gut sein konnte?
Die EU ist kein altruistischer Verein für Philanthropen, sondern ein Interessenverbund. Deren Führungsmächte sorgen für eine geordnete Hierarchie, in der die Rechte der Stärkeren nicht von den Interessen der Gemeinschaft abhängig sind. Dies wird sich auch bei der Ukraine zeigen.
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