Nachholung des Versäumten

Meseberg-Gipfel Deutschlands kontinentale Mittellage eröffnet strategische Chancen, die lange vergessen waren
Ausgabe 34/2018
In unruhigen Zeiten rückt man näher zusammen
In unruhigen Zeiten rückt man näher zusammen

Foto: Steffen Kugler/Bundesregierung via Getty Images

In einer 1995 vorgelegten Studie der Carnegie-Stiftung, überschrieben mit Beyond Bonn, war zu lesen, das wiedervereinigte Deutschland dürfte seiner „natürlichen Mittellage“ in Europa wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Dahinter stand die Frage, wie wird Geografie womöglich zum Vehikel von Geopolitik – und das ausgerechnet dort, wo zwei Weltkriege angestiftet wurden? Otto von Bismarck hatte nach der Reichsgründung 1871 wegen der „Mittellage“ die Doktrin vertreten, das ökonomische und militärische Potenzial des Deutschen Reiches erfahre man als Stärke und Schwäche zugleich. In der Rivalität mit europäischen Großmächten sei die kontinentale Mittellage ein strategischer Nachteil. Empfehlen würden sich daher der Mut zum Aufbau nationaler Macht wie ein stets ausbalanciertes Verhältnis zwischen Ost und West, zwischen dem Russischen Zarenreich auf der einen, Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite. Wer die Balance missachte, laufe Gefahr, sich Feinde von allen Seiten aufzuladen.

Souverän und selbstbewusst

In der Carnegie-Studie wurde vermutet, dass Deutschland als europäische Mittelmacht schon aus Bündnisräson seine kontinentale Mittellage nicht weiter auskosten werde, um dadurch an Souveränität und Selbstbewusstsein zu gewinnen. Eine gewagte Annahme, da Mitte der 1990er Jahre in Europa eine relativ offene Situation bestand. Zu diesem Zeitpunkt waren weder die NATO noch die EU nach Osten hin erweitert. Würde der Westen künftig bis zum Bug oder gar bis Moskau reichen oder schon an Oder und Neiße enden?

Für Deutschland schien es ratsam, an der Westbindung keinerlei Abstriche zu machen, aber ein vorübergehend volatiles Bündnisgefüge zu nutzen, um nationalen Interessen mehr Geltung zu verschaffen. Einen Eindruck davon, wie das aussehen konnte, erlaubte 1991 die einseitige, im eigenen Lager nicht abgestimmte Anerkennung Kroatiens und Sloweniens als unabhängige Staaten jenseits der jugoslawischen Föderation. Eine Fehlentscheidung, wie sich herausstellen sollte, dazu geeignet, einen bereits ausgebrochenen Bürgerkrieg zusätzlich anzufachen. Die wegen solcher Entscheidungen fällige Generalinventur deutscher Außen- und Sicherheitspolitik unterblieb jedoch. Sie hatte sich endgültig erledigt, als der Westen mit neuen NATO- und EU-Mitgliedern ab 1999 raumgreifend nach Osten expandierte.

Moskau rückt näher

Sollte das einst Versäumte und Vermiedene heute mehr denn je nachgeholt werden, da das vorhandene Bündnis zusehends als verlässliches Koordinatensystem politischen Handelns entfällt? Wie sich zeigt, hat die Osterweiterung eine teils ungestüme Renationalisierung innerhalb der EU zur Folge, die mit Italien nun auch einen Gründungsstaat der europäischen Gemeinschaft erreicht. Die NATO steht zwar nicht vor dem Zerfall, wird aber von der USA weniger als Interessenverbund denn als Projektionsfläche unilateraler Obsessionen genutzt. Da kann die Mittellage plötzlich viel wert sein, um zu begründen, dass man sich wegen erodierender Beziehungen im Westen anderswo umsehen muss. Zwangsläufig wird Russland als Partner aufgewertet, weil das bilaterale Verhältnis ein Stabilitätsanker in konfusen Zeiten sein kann. Schon vor dem Treffen Merkel-Putin in Meseberg stand außer Zweifel, dass Deutschland bei elementaren Fragen der Russischen Föderation nähersteht als den USA, sei es im Widerstand gegen Strafzölle im Welthandel, im Willen, den Atomvertrag mit Iran zu verteidigen und die Gaspipeline Nord Stream II zu bauen. Zur Befriedung Syriens sind Deutschland und Frankreich offenbar bereit, mit Russland und der Türkei in einem neuen diplomatischen Format zu kooperieren – ohne die USA.

Taktische Allianzen waren häufig Indikatoren geopolitischer Umschwünge. Etwa 1922, als sich Deutschland und Sowjetrussland in Rapallo als Außenseiter begegneten, die einen Krieg verloren hatten, aber international satisfaktionsfähig bleiben wollten. Heute führen die Regierungen in Berlin und Moskau jene zwei Kraftzentren in Europa, die global wettbewerbsfähig sind und einen Interessenausgleich brauchen, um sich von fatalen Weichenstellungen des Westens im Jahrzehnt nach 1999 zu emanzipieren.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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