Am 3. März 1918 hat sich das revolutionäre Russland entblößt, dass es an Selbstaufgabe grenzt. In Brest-Litowsk unterschreiben Gesandte des kaiserlichen Deutschlands und Österreich-Ungarns mit dem Volkskommissar Leo Trotzki einen Friedensvertrag. Die Bedingungen sind demütigend und maßlos, aber Lenin bleibt bei seiner Überzeugung, dass die Revolution nicht wortbrüchig werden darf. Schon weil sie die Macht dazu nicht hat. Das Versprechen der Bolschewiki, Russland vom Weltkrieg zu erlösen, soll eingehalten werden. Der längst nicht geschlagene innere Feind lässt keine Wahl.
In den Wochen danach besetzen deutsche Truppen Finnland, Teile Weißrusslands, das Baltikum, die Krim, die gesamte Ukraine. Es sind Gebiete mit etwa 70 Millionen Menschen, die normalerweise nicht hergeben darf, wer ökonomisch überleben will. Ressourcen gehen verloren, womit sich Russland – egal, ob die Bolschewiki regieren oder sonst jemand – auf Dauer nicht abfinden kann.
Auch über Kiew wehen fremde Standarten, dort hat sich ein Armeekorps des Feldmarschalls Hermann von Eichhorn eingerichtet. Die Stadt am Dnjepr beherrschen heißt das Tor zur ukrainischen Kornkammer aufstoßen. Das darbende, durch die Seeblockade der Entente abgeschnittene, seit 1917 von Hungersnöten heimgesuchte, noch immer vom Sieg im Feld halluzinierende Reich Wilhelms II. braucht nichts dringender. Im Osten fällt einem so leicht in den Schoß, was im Westen so viele Tote kostet.
„Verflucht seien die Deutschen“, stöhnt Jelena Turbin, weil ihr die Besatzer den Mann nehmen, den Offizier Sergej Talberg aus der Armee des Zaren. Im geheizten Salonwagen sitzt er, gute englische Zigaretten raucht er, nach Westen, dem rettenden Exil entgegen, fährt er. Natürlich will Talberg Jelena nachholen. Beide wissen, dazu kommt es nie. Zu fiebrig, zu flüchtig geriet der Abschied im Haus der Geschwister Turbin auf dem Alexejewski-Hang am Rande von Kiew. Gerade drohten die Wände der Wohnung schon einmal einzustürzen, als die Mutter plötzlich starb. „Ihr müsst leben“, hatte sie den Kindern mit ihren letzten Atemzügen zugeflüstert. Wie sollen wir das schaffen in diesem frostschweren Dezember 1918? Sie konnten es nicht mehr fragen. Schon wurde der Sarg über die Schwelle gehoben.
Jelena und ihre Brüder – der Arzt Alexej Turbin und der erst 19-jährige Nikolka – haben die Selbstherrschaft des Zaren nie geliebt, jetzt aber kann uns nur noch der Zar retten, glauben sie, die „weiße Idee“, die Kraft der Geschichte. Es muss ein Wunder geschehen wie am 7. September 1812 mit der Schlacht von Borodino, als das russische Heer dem vorrückenden Napoleon in den Arm fiel.
Der Roman Die weiße Garde, das erste große epische Werk des sowjetischen Schriftstellers Michail Bulgakow (1891–1940), vollendet 1924, erzählt von dramatischen Tagen im Leben der Turbins, einer russischen Familie in Kiew, das damals schon herumgereicht wird zwischen Mächten und Mächtigen.
Ukrainische Nationalisten haben die Gunst der Stunde erkannt, als Zar Nikolaus II. im Februar 1917 von Alexander Kerenski gestürzt wird. Sie bilden in Kiew die Große Rada, rufen den eigenen Staat aus und verkünden im Januar 1918 den Austritt aus der Russischen Föderation. Zum Führer dieser Selbstermächtigung schwingt sich Semjon Petljura auf, der Herold eines „nationalen Sozialismus“. Bald jedoch muss er sich die Macht mit der deutschen Armee teilen, die einrückt, damit in Brest-Litowsk errungene Pfründe ihren Besitzer finden. Feldmarschall von Eichhorn hält Petljura für einen windigen Kerl und unsicheren Kantonisten, der womöglich mit der Entente im Westen kungelt. Besser, man verstößt und vertreibt den Parvenü und ernennt einen zaristischen General zum Statthalter.
So wird Pawel Skoropadski Hetman in Kiew, wo es brodelt und bebt. Denn draußen auf den Schneefeldern sinnt Petljura auf Revanche, sammeln sich Kanoniere, MG-Schützen und Kosakenmützen. An ihrer Seite der Bauernzorn in zerlumpten Bastschuhen und mit zerrauftem Haar, der sich rächen will für die Galgen und das Grauen, das ihnen die Deutschen gebracht haben. „Unruhig, nebelhaft, schlimm war es in der Stadt“, schreibt Bulgakow. Wohl dem, der in solcher Zeit eine Arche Noah besteigt. Das Haus der Turbins öffnet sich einer Handvoll Offiziere – Karausche, Scherwinski, Myschlajewski –, die Petljura abwehren, Kiew halten und dem Hetman dienen wollen. Der Wodka fließt, und der Dichter Lermontow wird zitiert: „Und nicht umsonst gedenkt ganz Russland des Heldentags von Borodino.“ So sehr in den Widerschein des Heroischen getaucht, will auch Alexej Turbin zur „weißen Garde“ gehören. Als Militärarzt bricht er auf zu einem neuen Borodino und muss feststellen, es handelt sich um das Gymnasium aus seiner Jugendzeit, wo die Truppe formiert und vor dem großen Wandbild der Borodino-Schlacht vergattert wird – Auge in Auge mit Zar Alexander, der wie ein Messias vor seinen Soldaten steht. Aber was soll ich eigentlich verteidigen, fragt sich Turbin. „Die Leere? Den Widerhall der Schritte? Kannst du, Alexander, mit den Regimentern von Borodino das untergehende Haus retten?“
Unversehens wird Scherwinski, Karausche und Turbin schmerzlich bewusst, an welchem Nebelaltar sie beten. Nikolaus II. ist ein vom Krieg geschlagener, von den Bolschewiki gefangener und im Volk verachteter Patriarch. Wie sollte mit ihm das patriotische Fieber steigen, wie es einst Alexander I. mit seinem Einzug in Moskau – kurz vor Borodino – entfacht hat? Die Patrioten von Kiew umgibt viel Weihrauch, aber kein Feuer. Bulgakow schildert mit sarkastischem Charme, wie die geistige Berauschung der Turbins und ihrer Freunde wenig ausrichten kann gegen Dekadenz und Verrat. Genau genommen gar nichts. Die deutschen Besatzer ziehen ab, als Petljura näher rückt. Sie hinterlassen feines Uniformtuch, den schalen Geschmack von Feigheit und ihre Kreatur, den ukrainischen Hetman Skoropadski – die letzte Bastion gegen Petljura, falls die „weiße Garde“ mitspielt und kämpft. Doch bricht der Damm, bevor die Flut steigt. Als verletzter Offizier auf bleich geschminkt und von Binden umwickelt, flieht der Hetman bei Nacht und flackernden Gaslaternen – in einer deutschen Uniform. Da wollen auch die Zarenjünger nicht länger auf verlorenem Posten ausharren und hauen ebenfalls ab, als letztes Aufgebot rekrutierte Gymnasiasten den Säbeln der Petljura-Leute überlassend. Auf Kiew lasten Pogrom und Endzeitstimmung. Die „weiße Garde“ ist geflohen, die „weiße Idee“ verflogen? Andrej Turbin entkommt dem Mordrausch der Eroberer in höchster Not und im letzten Moment, schwer verletzt und vom Typhus auf sein Totenbett geworfen, wie Jelena und Nikolka befürchten. Fieberträume zerreißen das Verdämmern des Schwerkranken. „Wisst ihr, Freunde, eigentlich ist es noch sehr die Frage, ob wir richtig tun, diesen Hetman zu verteidigen. In seinen Händen sind wir nichts als teures und gefährliches Spielzeug, mit dessen Hilfe er die finsterste Reaktion einführt.“ Kam das nicht von Leutnant Karausche? Oder war es ein anderer? Aber gesagt worden ist es!
Draußen in der lichten Ferne hinter dem Dnjepr weht eine Ahnung von Flieder. „Der Schnee wird tauen, das grüne ukrainische Gras wird heranwachsen und die Erde bedecken“, prophezeit Bulgakow im Epilog seines Buches. „Die Saaten werden üppig aufgehen, darüber werden Hitzewellen flimmern, und kein Blut wird zu sehen sein.“ Aber Alexej Turbin wird zu sehen sein, wie er sich mit einem Stock und gelben, tief liegenden Augen durch die Wohnung auf dem Alexejewski-Hang in seine Praxis schleppt. Wie ein Schlaftrunkener geistert er umher. Was kann man erwarten, wenn einer von den Toten aufersteht? Eichhorn, Skoropadski, Petljura – die Gespenster sind verschwunden. Turbin hört die Patientenklingel, nicht aber den Panzerzug, der draußen vor der Stadt abfahrbereit unter Dampf steht. Mit dem fünfzackigen roten Stern vorn an der Lokomotive wird er sich übers Gleis schieben.
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