Name, Anschrift und Gesicht

Gewissensfrage Weil die Würde des "Hohen Hauses" beschädigt worden sei, ist die Linkspartei jüngst des Parlaments verwiesen worden. Beschädigt hat sich aber nur der Bundestag selbst

Die schwache Seite unseres Parlamentarismus wurde so offensichtlich wie selten, als ein selbstverständlich demonstratives Gedenken der Linksfraktion für die Kundus-Toten im Bundestages zum Sakrileg erklärt wurde, und es doch ein Wunsch aller Abgeordneten hätte sein müssen, sich anzuschließen. So unzureichend eine solche Geste auch immer sein mag: Der Bruch mit der Geschäftsordnung dieses Parlaments ist nichts gegen den Zivilisationsbruch, zu dem es am 4. September 2009 in Kundus kam. Man hat den Tafeln der Parlamen­tarier entnehmen können, wie viele Kinder im Feuerball verglüht sind, weil ein deutsches Kommando ahnen musste, wenn es treffen konnte, als es den Luftangriff befahl. Den Schüler Rahmal Schah, neun Jahre. Den Schüler Ahmad Ayaz, neun Jahre. Den Schüler Guldin Djamaluddin, 15 Jahre. Um nur drei zu nennen. Sich ihrer zu erinnern am Tag der Afghanistan-Debatte, hätte der Regierung einfallen sollen. Tönte doch ihr Außenminister kurz vor der ­Afghanistan-Konferenz in London, er werde dieses Treffen boykottieren, sollten nicht humanitäre Ziele im Vordergrund stehen. Warum hat sich Westerwelle nicht mit der Linkspartei erhoben, um zu bedauern, wie inhuman an jenem 4. September gehandelt wurde? Weshalb verzichtete ein ganzer Plenarsaal darauf?

Weil solche Fragen absurd klingen, gibt es seit über acht Jahren Krieg am Hindukusch. 429 Bundestagsabgeordnete ­haben ihn gerade verlängert und ohne erkennbare Skrupel noch mehr Soldaten nach ­Afghanistan geschickt. Vielleicht hätte die Linke auch dem Rechnung tragen und am 26. Februar den willigen Expedienten links und rechts zugleich die Namen der umgekommenen Bundeswehrsoldaten vors Gesicht halten sollen. Denn der Marschbefehl in den Krieg kommt aus einem Haus, das Protest dagegen als Hausfriedensbruch ahndet. Es ist ­zynisch oder einfach nur anachronistisch so zu tun, als hätten die Schmuddelkinder der Linken die Politik verunreinigt. Als seien Regeln verletzt worden. Wenn es die gibt, sind es bestenfalls Regeln eines „gesitteten Spiels“, das die Toten von Kunduz nicht verdient haben. Der guten Ordnung halber wird das Lebensrecht Einzelner hintangestellt. Die Linkspartei hat nicht nur ihnen, sondern auch dem Parlamentarismus einen Dienst erwiesen. Gewissen durch Opportunität zu ersetzen und um seiner selbst willen zu existieren, kann nicht Sinn und Zweck des „Hohen Hauses“ sein.

Beim Betrachten eines Pressefotos – es zeigte eine Frau, die durch einen zerstörten Berliner Innenhof nach einem Luftangriff irrt – schrieb Bertolt Brecht 1944 in seiner Kriegsfibel „Such nicht mehr, Frau: du wirst sie nicht mehr finden! Doch auch das Schicksal, Frau, beschuldige nicht! Die dunklen Mächte, Frau, die dich da schinden, Sie haben Name, Anschrift und Gesicht.“ Wer sich die Frau auf der verbrannten Erde von Kundus vorstellt, könnte denken: Nicht nur die Opfer dort, auch die Täter haben Name, Anschrift und Gesicht.




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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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