NATO entsorgt UN-Charta

Kriegspartei Der Nordatlantik-Pakt treibt die gewalttätige Parteinahme im libyschen Bürgerkrieg auf die Spitze und übernimmt in dieser Woche das Oberkommando der Intervention

Die Allianz tut, was sie nicht lassen muss, sondern genau genommen tun soll oder darf. Ihre auf dem Lissabonner Gipfel Ende 2010 verabschiedete Doktrin empfiehlt globalen Interventionismus als Handlungsmuster. Jetzt doch das Oberkommando für die Angriffe auf Libyen zu übernehmen, erscheint insofern nur logisch. Und doch geschieht noch einiges mehr, als die NATO der Welt bisher vorgeführt hat, denkt etwa man an den Luftkrieg gegen Serbien und Montenegro 1999 oder die Afghanistan-Besatzung seit 2002.

Kopiert wird das Verhalten der US-Armee zwischen Oktober und Dezember 2001 in Afghanistan, als zunächst die Air Force, dann auch amerikanische Bodentruppen der mit den Taliban verfeindeten Nordallianz der Weg nach Kabul von jedwedem Hindernis frei räumten – intervenieren, um einen Regimewechsel herbeizuführen. Wenn die NATO beim Vorstoß auf Libyen die Kommandogewalt hat, tut sie vom Prinzip her und in der Praxis nichts anderes. Auch sie greift nun – es sind nicht mehr wie bisher ihre Mitglieder USA, Großbritannien und Frankreich – in den inneren Konflikt eines Staates ein, dem als UN-Mitglied nicht einmal mehr das Recht auf eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates zugestanden wird. Als seien Regime und Staat identisch, als seien Libyen, seine Bevölkerung und Souveränität eine „Quantité négligeable“ oder einfach nicht mehr existent. Ein Völkerrechtssubjekt ohne Rechte, weil von jedem Recht suspendiert, bis durch einen Bürgerkrieg entschieden ist, was die NATO durch gewalttätige Parteinahme in ihrem Sinne zu entscheiden wünscht.

Wer sich so verhält, kann die UN-Charta gleich dem Reißwolf übergeben. Der bestätigt in gewisser Weise Gaddafis provokativ-theatralischen Auftritt vor der UN-Generalversammlung im September 2009, als Delegierte von 192 Staaten befremdet und irritiert miterleben mussten, wie sich der libysche Staatschef dazu verstieg, vor den Augen der Delegierten Seiten aus der UN-Charta zu reißen, weil die inzwischen mehr gebrochen als eingehalten werde – ein exzentrischer Prophet in eigener Sache.
Nur, wem ist damit geholfen, wenn elementare Prinzipien der UN-Charta wie das Gewaltverbot nach Artikel 2/Absatz 2 oder der Verzicht auf die Einmischung in Angelegenheiten, „die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören“, wie im Artikel 2/Absatz 7 festgelegt, einfach übergangen werden?

Als Nikaragua 1986 vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen die Verminung seiner Pazifikhäfen durch die USA klagte, bekam der mittelamerikanische Staat auch deshalb Recht, weil das Vorgehen der Reagan-Administration als militärisches Eingreifen in einen Bürgerkrieg gewertet und verworfen wurde. In Libyen findet derzeit nichts anderes statt. Man darf annehmen, dass der NATO-Konsens, die Führung zu übernehmen, inzwischen auch deshalb besteht, weil es eine Einigung darüber gibt, was in der Zeit nach den Kampfhandlungen geschehen soll. Worauf man sich verständigt hat, ist vorstellbar: eine temporäre, militärisch grundierte Garantie für das von den Gegnern Gaddafis beherrschte Terrain, den Schutz der Erdölförderung, des Öl-Transfers und der Öl-Verschiffung, ein politisches Protektorat für die in den eroberten Gebieten etablierte Administration – also State Building im weiteren oder engeren Sinne, obwohl die Erfahrung nicht nur frisch, sondern täglich zu wiederholen ist, wie das im Irak ausging. Die NATO könnte in Libyen beabsichtigen, woran die USA (auch die UNO) anderswo gescheitert sind.

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