Neutralität ist schädlich

Katalonien Die EU sollte um ihrer selbst willen das Prinzip der Nichteinmischung aufgeben und in Spanien vermitteln, auch wenn die Regierung Rajoy das ablehnt
Katalanische Polizei in Barcelona
Katalanische Polizei in Barcelona

Foto: Chris McGrath / Getty Images

Natürlich liegt es nahe, von der EU-Kommission, dem EU-Ministerrat oder von diesen beauftragten Emissären zu erwarten, dass sie die spanische Staatskrise moderieren – egal, ob das die Regierung Rajoy will oder nicht. Schon, weil eine derartige Mediation deeskalieren und von Aktionen wie einseitigen Unabhängigkeitserklärungen abhalten dürfte.

Allerdings ist in der Politik selten selbstverständlich, was auf der Hand liegt. Verabschiedet sich die EU von einem Neutralitäts- oder Nichteinmischungsgebot, zu dem sich gerade Kommissionsvize Frans Timmermans vor dem Europaparlament bekannt hat, werden Mitgliedsstaaten allergisch reagieren, die sich ihrer territorialen Integrität so wenig sicher sein können wie derzeit Spanien. Mit anderen Worten, ein EU-Mitglied vor einer Zerreißprobe bewahren zu wollen, kann zur Folge haben, andere Mitgliedsländer – Belgien (Konflikt zwischen Flamen und Wallonen), Italien (Padanien), Großbritannien (Schottland/Nordirland) und Frankreich (Korsika) – in eine solche zu treiben.

In all diesen Staaten existieren separatistische Bewegungen, die für Volksgruppen bzw. Minderheiten wie von diesen besiedelte Regionen mindestens eine starke Autonomie, wenn nicht mehr – Sezession und Souveränität – verlangen. Eine EU-Vermittlung in Spanien sorgt zweifellos für einen Präzedenzfall, der sich bei ähnlichen Krisen anderswo in der Union als Muster bemühen lässt.

Präzedenzfall Kosovo

Es kommt hinzu, dass die EU beim Thema Separation nicht unbefleckt ist und demzufolge nicht unbelastet agieren kann. Ohne Macht und Beistand der Staatengemeinschaft wäre die Abspaltung des Kosovo von Serbien kaum zustande gekommen. In diesem Fall wurde das Prinzip der politischen Selbstbestimmung über den Erhalt staatlicher Integrität gestellt. Die Gründung der Republik Kosovo war im Februar 2008 nur möglich, weil sich die EU zur Schutzmacht berufen fühlte und bis heute als solche agiert. Das unabhängige Kosovo finalisierte die territoriale Neuordnung der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ).

Nach 1990 war deren Zerfall der Anstoß für eine flächendeckende Sezession auf dem Balkan, die den Interessen der EU – wie des Westens überhaupt – nicht zuwider lief. Im Gegenteil – Serbien wurde jeder Großmachtanspruch ausgetrieben und soweit diszipliniert, dass sich seine Regierungen heute als Bittsteller um EU-Aufnahme in eine Reihe mit den einstigen jugoslawischen Teilrepubliken Bosnien, Montenegro und Mazedonien stellen. Serbiens Gebietsverlust und Domestizierung schwächte den Einfluss Russlands auf dem Balkan. Schließlich konnten die USA mit Camp Bondsteel im Kosovo eine Militärbasis errichten, die in Südosteuropa ihresgleichen sucht und mehr als nur eine Machtenklave in diesem Teil des Kontinents ist.

Das heißt, es gab nach 1990 geopolitische Interessen in Europa und auf Seiten der EU, die dazu führten, dass Staaten aufgelöst und Grenzen verändert wurden. Dies geschah außerhalb der EU (Slowenien und Kroatien waren während des Jugoslawien-Krieges noch keine EU-Mitglieder), doch war die EU maßgeblich daran beteiligt, die postjugoslawischen Präzedenzfälle zu schaffen, die mit dem friedenserhaltenden Prinzip der Ordnung von Jalta brachen: der Unverletzlichkeit von Grenzen, die teilweise erst nach 1945 gezogen worden waren. Das bedeutete, die territoriale Unversehrtheit von Staaten wurde zwar durch das Völkerrecht, nicht zuletzt die Normen der UN-Charta, garantiert. Dass sich daraus jedoch ein zuverlässiger Schutz ergab, war wiederum nicht garantiert.

Der Erosionen zu viele

In diesem Sinne zurück zu Spanien und Katalonien. Eine Vermittlung durch die Europäische Union käme sicher in Betracht, würde die spanische Regierung darum ersuchen. Leider hat sich Premier Rajoy viel zu sehr exponiert, um ein derartiges Ansinnen ohne erheblichen Prestigeverlust zu überstehen, also verwirft er, was möglich wäre. Insofern kann sich Brüssel nur selbst einen Handlungsauftrag erteilen. Darüber zu befinden, heißt klären: Welchen Stellenwert hat eine von außen bewirkte Befriedigung derzeit für die EU? Was bedeuten die spanischen Zustände für ihren Zustand? Das Abdriften osteuropäischer Staaten, die ungelöste Flüchtlingsfrage, die schwelende Eurokrise, das Ausscheren Großbritanniens, der Vollzug des Brexits 2019 so oder so und dann noch ein vom Separatismus aufgewühltes Spanien – es könnten der Erosionen zu viele sein.

Soll die EU nun aber genau den Weg einschlagen, wie ihn der französische Präsident bei seiner Sorbonne-Rede am 26. September umrissen hat, wäre eine Vermittlungsmission die logische Konsequenz. Was sich bei Emmanuel Macron heraushören ließ, klang wie das Plädoyer für eine EU als föderatives System, das ohne Souveränitätsverzicht der Mitgliedstaaten undenkbar erscheint.

Wer einen Integrationswillen gutheißt, der sich der Vokabel „Neugründung“ bedient, geht davon aus: Die nationalen Bedürfnisse der Staaten lassen sich nicht länger mit der gewohnten Absolutheit geltend machen! Wenn die EU mehr Governance beanspruchen soll, geht es nicht anders. Was sonst hat Macron zum Ausdruck gebracht mit seinen vielen neuen Instanzen und Institutionen im EU-Format? Dies betrifft nicht nur sein Projekt Finanzminister für die Eurozone. Es war auch die Rede von einer europäischen Grenzpolizei, einer eben solchen Akademie für Geheimdienste, einer gemeinsamen EU-Interventionseinheit, einem gemeinsamen Rüstungsbudget etc.

All das läuft auf eine Supranationalisierung der EU hinaus, der Kompetenzen zuerkannt werden, wie man sie bei einem europäischen Zentralstaat vermutet. Wenn das so ist, dann muss Premier Rajoy in die Schranken gewiesen werden, will der eine Krise von europäischem Format zu einer innerspanischen Angelegenheit erklären. Wird ihm das in Brüssel zugestanden, dann sind Macrons Vorstellungen bestenfalls Visionen, die mit den Realitäten in der EU nicht viel zu tun haben. Denn Spanien wäre der Beweis, dass die Interessen der Einzelstaaten über jeden Zweifel erhaben.

Man kann es auch so formulieren: Wenn sich die EU nicht einschaltet, hat Spanien, hat Europa auf jeden Fall verloren. Wird vermittelt, besteht immerhin eine Chance, dies zu vermeiden.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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